Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Gründen einer wirtschaftlichen Rationalität, die unter der Devise steht: ›Wer nichts wagt, der nichts gewinnt.‹ Zum anderen aber auch aus bloßer Abenteuerlust heraus, bei der nicht der materielle Gewinn, sondern die expressive Selbststeigerung im Vordergrund steht.« 75 Das ist als Beschreibung nicht falsch, aber nicht vollständig. Denn es gibt wohl auch die von der Angst beflügelte Flucht nach vorn in die Konfrontation mit der Gefahr. Wenn die Angst in einer Gesellschaft zunimmt, neigen manche Menschen zu einer paradoxen Reaktion: Sie versuchen die Angst dadurch zu bannen, dass sie vor den Risiken die Augen verschließen und sich tollkühn der Gefahr aussetzen. Eine lange Zeit lähmende Angst kann unter besonderen Umständen plötzlich zur Triebkraft eines hochriskanten Aktionismus werden.
Das war offenbar am Anfang des Ersten Weltkriegs so, und das könnte im Prinzip auch heute wieder passieren, wenn der Angstpegel in der Gesellschaft weiter steigt. Das, was man gegen Ende des 19. Jahrhunderts, auf die Sozialdemokratie bezogen, den revolutionären Attentismus genannt hat, ging mit einer Gemütsstimmung einher, in der sich Angst und Hoffnung spannungsreich verbanden, die Angst vor dem »großen Kladderadatsch«, vor dem Zusammenbruch der gewohnten Welt, und die Hoffnung auf einen strahlenden Neubeginn. In
der Zeit vor dem Weltkrieg kam allerdings für große Teile der männlichen Bevölkerung ein oft übersehener besonders verunsichernder und bedrohlicher Aspekt hinzu: die Erwartung einer dramatisch veränderten Frauenrolle. August Bebel hatte mit seinem 1879 veröffentlichten Bestseller Die Frau und der Sozialismus diesen Aspekt mit der Vorhersage einer baldigen Revolution aller Sozialverhältnisse verknüpft und damit den wilhelminischen Mann tief verunsichert. 76 Gleichzeitig war durch das Auftreten der Suffragetten in London und durch Bohème-Gestalten wie Franziska zu Reventlow die neue emanzipierte Frau bereits für viele eher traditionell denkende Männer zum anschaulichen Schreckbild geworden. Die alle Klassen und Schichten der Gesellschaft und alle politischen Lager erfassende Kriegsbegeisterung mag also auch als ostentative Bekräftigung der Männlichkeit durch in ihrer Geschlechterrolle zunehmend verunsicherte Männer, vielleicht auch als Flucht vor den sich anbahnenden neuen Unwägbarkeiten im Geschlechterverhältnis in die Eindeutigkeit einer allein den Männern vorbehaltenen Welt des Krieges gedeutet werden.
Auch heute breitet sich wieder die Vorstellung aus, dass unsere Welt aus den Fugen ist, dass in nahezu allen Lebensbereichen die Sicherheit bietenden Selbstverständlichkeiten ins Wanken geraten sind. Mit wachsender Sorge nehmen wir in Europa wahr, wie das Zentrum innovativer Aktivität sich von Europa, vom Westen insgesamt, nach Asien zu verlagern beginnt. Wie ein unregulierter Weltfinanzmarkt mit seinen undurchsichtigen Manipulationen und hysterischen Reaktionen die Gestaltungsmöglichkeiten der Politik auf der Ebene des Staates und ganzer Großregionen zunichtemacht. Gleichzeitig erweist sich der auf das Technisch-Ökonomische verkürzte Fortschrittsprozess immer deutlicher als ein Prozess
gigantischer Zerstörung, wodurch die Zweifel am Sinn all unserer stolzen Leistungen weiter wachsen. Die Angst vor einer schleichenden Aushöhlung unseres Wohlstands oder vor einem neuen »großen Kladderadatsch« nimmt zu. Dass sie auf der einen Seite den Ruf nach erhöhten Sicherheitsanstrengungen erzeugt, ist unübersehbar. Zugleich könnte sie aber auch dazu führen, dass die Flucht in kriegerische Abenteuer für viele Menschen wieder attraktiv wird, wenn die verzweifelten Versuche, sich weltweit auf politische Stabilisierungsmaßnahmen zu einigen, auch weiterhin erfolglos bleiben.
Darum ist es so gefährlich, wenn, wie in Cancún oder erst kürzlich in Durban oder Cochabamba, die Weltgesellschaft sich nicht auf längst fällige energische Maßnahmen zur Bekämpfung der drohenden Klimakatastrophe verständigen kann. Wenn auf Gipfeltreffen Mal um Mal die im Grundsatz von allen geforderte Kontrolle der Finanzmärkte von einzelnen Ländern aus kurzsichtigem Egoismus verhindert wird. Wenn nationalistische Borniertheit und taktische Winkelzüge eine gemeinsame Politik gegenüber dem Iran torpedieren. Oder wenn die Genehmigung immer neuer jüdischer Siedlungen auf der Westbank und die dadurch beförderte Radikalisierung der Palästinenser im Nahen Osten jede Aussicht auf Frieden
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