Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Geborgenheit und Sinn vermitteln, und zwar auch für Menschen, die vielen Inhalten der christlichen Verkündigung eher skeptisch gegenüberstehen. Während unter Protestanten eine historisierende Bibellektüre und ein metaphorisches Verständnis sakramentaler Handlungen auch in der Amtskirche weit verbreitet ist, beharrt die katholische Hierarchie vielfach immer noch auf einem mehr oder weniger wortwörtlichen Verständnis ihrer dogmatischen Lehren. Allerdings zeigen Umfragen unter katholischen Gläubigen, dass Kerndogmen wie die von der unbefleckten Empfängnis, von der leiblichen Auferstehung am Jüngsten Tag oder der tatsächlichen Verwandlung von Wein in das Blut Jesu während der Messe von einer Mehrheit der Katholiken, zumindest in den westlichen Ländern, nicht mehr geglaubt werden. Allenfalls in Teilen Afrikas und Lateinamerikas, wo der Anschluss an traditionelle magische Praktiken möglich ist, vermögen solche Lehren noch zu überzeugen.
Dies alles heißt freilich nicht, dass die Religionen außer dem im Prinzip auch im Freundeskreis, in der Familie, in der Clique oder im Sportverein zu erfahrenden Gemeinschaftserlebnis nichts zu bieten hätten, was uns modernen Menschen helfen könnte, unsere Ängste zu ertragen und Sicherheit zu gewinnen. Die christliche Religion bringt, ebenso wie die meisten anderen Religionen, in unsere moderne Welt etwas ein, was wir dringender brauchen als allen technisch-organisatorischen Aufwand zur Abwehr von Gefahren: die Bereitschaft, die Grenzen der Vernunft sowie unsere eigene Schwäche und Endlichkeit zu akzeptieren. Zugleich kann sie
helfen, dass wir uns mit der uns eigenen Unvollkommenheit angenommen fühlen. Der Apostel Paulus hat diesen Zug des Christentums in den Korintherbriefen exemplarisch herausgearbeitet: »Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.« 80 Papst Benedikt XVI., sonst eher bekannt für einen rigorosen Traditionalismus, hat in seiner Enzyklika Deus caritas est einen ähnlichen Akzent gesetzt, indem er die folgende Stelle aus dem Ersten Johannesbrief als die Mitte des christlichen Glaubens bezeichnete: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.« 81 Aber die Missbrauchsskandale der letzten Zeit und die ablehnende Haltung des Papstes zu Reformen, die die traditionell verklemmte Haltung zur Sexualität und die Frauenfeindlichkeit in der Kirche überwinden könnten, lässt die Botschaft vielen – auch in der Kirche selbst – unglaubwürdig erscheinen.
Zudem finden wir in der Bibel auch eben diesem Johannes zugeschriebene Texte in einem ganz anderen Ton, und es ist wohl kein Zufall, dass sich die rabiatesten christlichen Fundamentalisten, die protestantischen Dispensionalisten in den USA und die Opus Dei -Anhänger unter den Katholiken, im
Gegensatz zur Mehrheit der Protestanten und Katholiken besonders gern und häufig auf diese beziehen. In der Johannes-Apokalypse , vermutlich verfasst auf dem Höhepunkt der Christenverfolgung in Kleinasien, versucht der Autor Trost zu spenden, indem er der verängstigten Gemeinde eine grandiose Vision des endgeschichtlichen Sieges des Christentums über alle seine Widersacher enthüllt. Es ist nicht der Gott der Liebe, der hier in der Not der Verfolgung beschworen wird, sondern der Gott der Rache. Keine Rede davon, dass die Liebe nicht »eifert«, nicht »das Ihre« sucht, sich »nicht erbittern« lässt und »das Böse« nicht zurechnet. Statt um Liebe, Vertrauen, Gemeinschaftlichkeit geht es um ein hasserfülltes Wir-oder-sie, um furchtbare Vergeltung, um die Vernichtung der Feinde und die Gewissheit der Rechtgläubigen, am Ende als Sieger dazustehen. So verständlich es erscheinen mag, dass Menschen in höchster Bedrängnis solche grausamen Rachefantasien entwickeln, es wäre ein großer Irrtum zu glauben,
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