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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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zerstören. Mit jeder gescheiterten UNO-Konferenz, mit jedem ergebnislosen Gipfeltreffen, mit jeder im Sand verlaufenden Vermittlungsaktion wächst die Gefahr, dass Gewalt bei der Durchsetzung der eigenen Interessen wieder erwägenswert, vielleicht gar als »Lösung« im doppelten Sinn wieder herbeigesehnt werden könnte.
     
    In Europa scheint eine solche Entwicklung zurzeit noch kaum vorstellbar. Die schreckliche Erfahrung zweier Weltkriege sitzt den Menschen des Kontinents noch in den Knochen, auch die positive Erfahrung der Nachkriegsjahrzehnte, dass nach Jahrhunderten von Krieg und Zerstörung Europa durch geschickte
Politik und intensivierte Zusammenarbeit zu einer Zone gesicherten Friedens werden konnte. Aber der von den Europäern mühsam und spät angenommene, ihnen mittlerweile fast schon zur Gewohnheit gewordene Geist der Kooperation muss sich heute weltweit bewähren, wenn er seine Attraktivität nicht einbüßen will. Und dafür scheinen die Aussichten im Augenblick nicht eben günstig zu sein, auch weil die Reichen und Mächtigen vielfach immer noch nicht begriffen haben, dass sie nicht in Frieden und gesichertem Wohlstand leben können, wenn sie die Lebensinteressen der Mehrheit weiter missachten.
     
    Was die Europäer sich zumeist als mühsam erworbenen zivilisatorischen Fortschritt anrechnen, die Neigung, die Interessen der jeweils anderen zu berücksichtigen und Konflikte nach Möglichkeit kooperativ zu lösen, wird in manchen anderen Teilen der Welt ohnehin oft als Zeichen der Dekadenz, als Schwäche oder Feigheit gedeutet. In der Häme, mit der sich der US-amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld vor einigen Jahren über das »alte Europa« ausließ, weil mehrere europäische Regierungen und die große Mehrheit der Bevölkerung des Kontinents sich dem Irakkrieg des George W. Bush verweigerten, klang unverkennbar jene auch von Jünger zeitlebens vertretene Auffassung an, dass die Vitalität eines Volkes sich vor allem im Krieg beweise. Der den Republikanern nahestehende Politikwissenschaftler Robert Kagan brachte damals die in den USA verbreitete Sicht auf die simple Formel: »Amerikaner sind vom Mars und die Europäer von der Venus.« Während die Europäer schönen Träumen nachhingen, packten die Amerikaner die Probleme an und lösten sie. (Nach dem Fiasko im Irak und in Afghanistan wird er das heute wohl kaum noch behaupten können.) Die Europäer, so Kagan damals, lebten in einer kantischen Fantasiewelt ewigen Friedens, während allein die Amerikaner sich realistisch der Aufgabe stellten, in einer Welt Hobbes’scher Anarchie Ordnung zu schaffen.

     
    Dass dieser Einschätzung ein geradezu groteskes Missverständnis der kantischen Position in der Schrift Zum Ewigen Frieden zugrunde liegt, ist das eine. Wichtiger ist die Abwertung aller Bemühungen um gewaltlose Konfliktlösung und das Aushandeln von Kompromissen als wirklichkeitsfremdes »Gutmenschentum« und/oder feige Drückebergerei. Da alles, was wir zur Abwehr der großen Gefahren, denen sich die Menschheit heute gegenüber sieht, sinnvollerweise unternehmen könnten, nur als Ergebnis mühsamer Aushandelsprozesse denkbar ist, ist es äußerst gefährlich, wenn genau dieser Politiktyp immer wieder – nicht nur in den USA – unter Generalverdacht gerät. Demokratie, die Suche nach Kompromissen, die Rücksichtnahme auf die Interessen und Sichtweisen der anderen, alles das ist heute zweifellos nötiger denn je. Aber wenn es nicht gelingt, auf diese Weise plausible Ergebnisse zu erzielen, kann eine solche Politik auch in Europa leicht vielen Menschen als verächtliche Schwäche und Dekadenz erscheinen. Das, was in unseren Medien immer mal wieder unter der Überschrift Politikverdrossenheit verhandelt wird, ist womöglich zum Teil ein Vorbote einer solchen Entwicklung. Wenn den Menschen die normale Gangart der Demokratie als langweilige und kontraproduktive Selbstbeschäftigung einer »politischen Klasse« erscheint, die längst den Kontakt zum Bürger und seinen Problemen verloren hat, kann auch bei uns auf einmal der Salto mortale als angemessene Weise der Fortbewegung erscheinen.

4. Die Rationalisierung von Ängsten
    Zu den ältesten Methoden der Überwindung von Angst und der Gewinnung von Sicherheit gehören die verschiedenen Formen der Rationalisierung von Ängsten in Mythen, magischen Ritualen, Religionen, Dogmensystemen und Ideologien. Der Glaube an übernatürliche Kräfte, an absolute oder durch Autoritäten verbürgte

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