Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
geschieht dies vor allem, weil Dogmatismus und Diskussionsverweigerung sich besonders gut als Instrumente der aggressiven oder defensiven Identitätsbehauptung eignen. Das ist bei den fundamentalistischen Evangelikalen in den USA ebenso zu
beobachten wie bei fundamentalistischen Strömungen in der islamischen Welt. Für beide scheint mehrheitlich zu gelten: Wer nicht mehr (im traditionellen, vormodernen Sinn) glauben kann, der muss, um sich seiner Sache halbwegs sicher sein zu können, hassen – die anderen , die Ungläubigen , die Fremden und nicht selten auch sich selbst. Nur in den allerwenigsten Fällen haben wir es mit einer radikalen Abkehr von der modernen Rationalität und mit einer Rückkehr zu vorbehaltlosem Glauben oder einem vormodernen mythischen oder magischen Seinsverständnis zu tun. Es ist eben nicht so einfach, sich von der »Erbsünde« der Rationalität zu befreien, und weil dies so ist, ist auch der Gewinn an Sicherheit trotz aller gegenteiligen Beteuerungen meistens nicht sehr groß – wie sich schon daran erkennen lässt, dass sich Fundamentalisten fast immer von einem Heer satanischer Feinde umzingelt wähnen.
Fundamentalismus und Dogmatismus sind im Übrigen keineswegs das Gegenteil des modernen Rationalismus. Mit diesem haben sie vielmehr die Unfähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten, und den rigiden Ordnungswahn gemein. Allen dogmatischen und fundamentalistischen Lehren ist ein lebensfeindlicher Zug eigen. Aus Angst vor der Vielfalt und den Unwägbarkeiten des Lebens verbarrikadieren sich ihre Anhänger hinter einem Wall eherner Prinzipien, die um jeden Preis eingehalten werden müssen. Aber das Leben verträgt die scharfe Ausschließlichkeit, das unbarmherzige Entweder-oder, die fanatischen Reinheitsgebote, mit denen religiöse Eiferer sich und anderen den Blick trüben und das Herz beschweren, schlecht. Dass unter dieser Schulmeisterei auch die Anhänger solcher Lehren, den offiziellen Beteuerungen zum Trotz, selbst häufig leiden, dafür könnte die für die USA gut belegte Tatsache ein Indiz sein, dass der Konsum von Antidepressiva unter Mitgliedern fundamentalistischer Religionsgemeinschaften und Sekten besonders hoch ist.
Bei den Lesern esoterischer Literatur und den Anhängern esoterischer Praktiken liegt der Fall ein wenig anders. Oft hat es den Anschein, dass es sich hier um einen eher spielerischen, jedenfalls nicht mit letztem Ernst betriebenen Umgang mit den bizarren Botschaften, Symbolen und Praktiken handelt, der durchaus mit einer herkömmlichen theoretischen und praktischen Alltagsrationalität zusammengehen kann. Nicht selten handelt es sich hier um eine Feierabendbeschäftigung von Menschen, die »bei Tage mit den virtuos beherrschten Mitteln der kulturellen Moderne an der beruflichen Karriere (...) feilen.« 79 In den Augen ihrer Anhänger dient die esoterische Theorie und Praxis oft vor allem dazu, Sinndefizite der wissenschaftlichen Weltdeutung auszugleichen und Entscheidungshilfe zu leisten, wo überzeugende rationale Gründe für die eine oder andere Alternative nicht zu erkennen sind, man sich aber gleichwohl meint entscheiden zu müssen. Ähnlich verhält es sich mit dem Fortleben alter abergläubischer Vorstellungen und Praktiken inmitten unserer wissenschaftlich-technischen Welt. Der Manager, der auf Holz klopft, wenn er vor den versammelten Abteilungsleitern auf das Gelingen des gemeinsamen Projekts anstößt, glaubt vermutlich nicht wirklich daran, dass ihm diese Geste helfen könnte, hätte aber vielleicht ein ungutes Gefühl, wenn er sie unterließe. Esoterik und Aberglaube sind für viele Menschen eine Art zweiter Verteidigungslinie, die sie errichtet haben, weil sie sich immer öfter einem schicksalhaften Geschehen ausgeliefert sehen, angesichts dessen unsere vernünftigen Berechnungen und Vorkehrungen keinen ausreichenden Schutz mehr bieten.
Wenn sich heute Menschen von den christlichen Kirchen wieder angezogen fühlen, was angesichts der nach wie vor steigenden Kirchenaustritte selten genug der Fall zu sein scheint, so wohl kaum, weil sie von deren Dogmatik in allen
Punkten überzeugt wären, sondern vor allem, weil sie in der traditionellen rituellen Lebensbegleitung Trost zu finden hoffen. Der sonntägliche Kirchgang, die großen kirchlichen Feste wie Ostern und Weihnachten, Taufe, Firmung bzw. Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung können auch heute noch durch die symbolische Vergemeinschaftung und die Rhythmisierung des Lebens
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