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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johano Strasser
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Wahrheiten, an den offenbarten oder durch die wissenschaftliche Analyse der Gegenwart zu entdeckenden Sinn der Geschichte hat über Jahrtausende hinweg viele Menschen im Chaos des Lebens stabilisiert. Seit der frühen Neuzeit aber sind diese Orientierung stiftenden Ordnungssysteme mehr und mehr durch die empirisch-wissenschaftliche Weltsicht ersetzt worden, freilich niemals so vollständig, dass die alten Denkweisen gänzlich verschwunden wären. Immer wieder hat es Phasen gegeben, in denen sie die Köpfe und Herzen vieler verunsicherter Menschen erobern konnten. Heute, in einer Zeit, da die Wissenschaft selbst mit der auf ihr fußenden Technik zu einer mächtigen Quelle der Angst geworden ist, da der technikbewehrte Mensch drauf und dran zu sein scheint, die Erde, seinen Oikos, unbewohnbar zu machen, kann es nicht verwundern, dass Alternativen zur wissenschaftlichen Welterklärung und Seinsdeutung wieder attraktiv werden. Weil der Mensch als vergesellschafteter Homo sapiens und Homo faber selbst für den Menschen zur größten Bedrohung geworden ist, begeben sich viele in ihrer Not wieder auf die Suche nach Ankerplätzen im Übermenschlichen und Übersinnlichen.
     
    Seit einiger Zeit ist in den Feuilletons, je nach der weltanschaulichen Ausrichtung des Autors, in triumphierender oder besorgter Tonlage von der Wiederkehr der Religionen die Rede. Allerdings ist nicht klar, was darunter zu verstehen ist, wenn gleichzeitig etwa in Deutschland immer mehr Menschen aus
den christlichen Kirchen, besonders der katholischen, austreten. Dafür hält der Esoterikboom im Buchhandel offenbar ziemlich ungebrochen an, Sekten und Geheimbünde haben seit Jahren regen Zulauf und im Internet finden die absonderlichsten Welterlösungs- und Verschwörungsideologien ihr Publikum. Sogar im Wissenschaftsmilieu, wo man sich normalerweise viel darauf zugutehält, nüchtern und emotionslos mittels Hypothesenbildung, Experiment, Falsifizierung und (vermeintlicher) Verifizierung einen Fuß vor den anderen zu setzen, treten neuerdings wieder Fortschrittspropheten auf, die trotzig jeden Zweifel an ihrem Tun von sich weisen und sich in überschwänglichen Zukunftsszenarien nach Art der biowissenschaftlichen Transhumanisten und in umfassenden Welterklärungsmodellen à la Stephen Hawking ergehen. Es erweist sich hier, was wir auch aus anderen Epochen der Geschichte kennen: In normalen Zeiten kann die Mehrheit der Menschen sich mit einer gewissen Gelassenheit damit abfinden, auf die letzten Fragen keine schlüssigen Antworten zu haben, kann sich milde Skepsis im Theoretischen mit Zugewandtheit und Vertrauen in der sozialen Praxis zu einem tragfähigen Lebenskonzept verbinden. In Umbruchzeiten, wie wir sie heute erleben, in Zeiten, da das traditionelle wissenschaftlich-technisch-ökonomische Fortschrittsmodell, das so lange sinn- und sicherheitsstiftend wirkte, an Grenzen stößt und eine allgemeine Zukunftsangst um sich greift, ist das für die meisten Menschen offenbar nicht genug.
     
    Sich mit der Kontingenz abfinden und dennoch zuversichtlich durchs Leben gehen – wer diese Gratwanderung nicht schafft, wird immer nach absoluten Gewissheiten suchen, die es nicht geben kann. Die Glaubensgewissheit, die dem mittelalterlichen Menschen noch eine Möglichkeit war, scheint uns modernen Menschen in aller Regel verschlossen zu sein. Aber das empirisch-wissenschaftliche Denken, das die Glaubensgewissheit so wirkungsvoll untergraben und unser Weltwissen
und unsere Gestaltungsmacht gewaltig erweitert hat, vermag ebenfalls auf die großen Fragen menschlicher Existenz keine überzeugenden Antworten zu geben. Das eigentliche Problem besteht darin, dass die meisten mit der Erbsünde der Rationalität behafteten Menschen noch immer nicht gelernt haben, die aus dieser Situation resultierende »metaphysische Obdachlosigkeit« (Heidegger) auszuhalten. Deshalb suchen sie – zumeist halbbewusst – nach Surrogaten für die verlorene Heilsgewissheit. Ein lange Zeit besonders wirkungsvolles Surrogat war das, was wir seit dem späten 18. Jahrhundert Fortschritt nennen. Solange in Europa und später in den Ländern des Westens die Wirtschaftsleistung von Jahr zu Jahr wuchs und in immer schnellerer Folge fantastische neue Produkte erzeugt wurden, solange es den Anschein hatte, der Steigerung unserer Macht und unseres Reichtums seien keine Grenzen gesetzt, konnten wir uns tatsächlich als Teil einer großen heilsgeschichtlich gepolten Bewegung fühlen, nahm uns die

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