Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
fallen, bleibt die hohe Risikoakzeptanz und Innovationsfähigkeit erhalten, die Europa braucht, um nicht hinter andere Großregionen zurückzufallen. Um eine Über forderung der Menschen in einer Welt zerbröckelnder Sicherheiten zu verhindern und der Gefahr einer Unter forderung durch eine ins Extrem getriebene paternalistische Fürsorglichkeit zu begegnen, muss eine europäische Mehrebenendemokratie in den Kernbereichen der sogenannten Lebensrisiken verlässliche Sicherheit anbieten, damit die große Mehrheit der Menschen die Fähigkeit zur selbstständigen Gestaltung ihres Lebens zurückgewinnen und Vitalität, Risikofreude und Unternehmergeist in der Gesellschaft erhalten werden können.
Soziale Sicherheit , seit der New-Deal-Politik des amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt in den dreißiger Jahren als Begriff geläufig, kann – jedenfalls in Europa – nicht mehr allein national organisiert werden. Wenn wir dem Artikel 22 der Menschenrechtserklärung der UNO von 1948 genügen wollen, in dem es heißt: »Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit«, dann müssen wir zumindest in der Europäischen Union, auf Dauer sogar weltweit, Mindeststandards der sozialen Sicherung etablieren, um dem gefährlichen Unterbietungswettbewerb der heute zumeist zu ökonomischen Standorten degradierten Staaten auch auf diesem Gebiet entgegenwirken zu können. Wenn aber die ökonomisch schwächeren europäischen Staaten nicht mehr mit erheblich niedrigeren Steuern und Abgaben und mit Lohndumping konkurrieren können, wird eine am Ziel der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse orientierte gesamteuropäische Infrastruktur- und Entwicklungspolitik umso dringlicher.
So wie in modernen Gesellschaften ein hohes Maß an organisierter Sicherheit in den Kernbereichen der Lebensrisiken Voraussetzung für ein hohes Maß an Eigeninitiative und Risikofreude ist, so sind Handlungsfähigkeit und Kompetenz auf den oberen Ebenen jedes demokratischen Gemeinwesens – sofern sie auf das beschränkt bleiben, was notwendig auf der oberen Ebene geregelt werden muss – Voraussetzung dafür, dass auf den unteren Ebenen zivilgesellschaftliche und demokratische Selbsttätigkeit und Selbstorganisation erblühen können. In Europa haben wir die Chance zu zeigen, dass es jenseits der Irrwege paternalistischer Überzentralisierung und forcierter Überindividualisierung Möglichkeiten einer sozialen Existenz gibt, in der sowohl die Individualität als auch die Sozialnatur des Menschen zu ihrem Recht kommt. Dies ist freilich nur möglich, wenn der Primat der Politik gegenüber der Ökonomie, insbesondere gegenüber der Finanzwirtschaft, gesichert wird. Die Einführung einer Transaktionssteuer wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung – wenn es nicht anders geht, zuerst in der Eurozone, dann im ganzen vereinten Europa. Die oft geäußerte Sorge, ein Vorpreschen der Europäer in dieser Frage könnte empfindliche Strafaktionen des weltweit operierenden Finanzkapitals zur Folge haben, ist nicht berechtigt. Zum einen ist das politisch verfasste Europa der größte und attraktivste Markt der Welt, auf den auch die Anleger angewiesen sind, und darüber hinaus würden die Einnahmen aus einer Transaktionssteuer die eigene Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen und der einzelnen Staaten Europas in allen Politikbereichen wesentlich verstärken.
Kosmopolitismus war nie auf Gleichmacherei aus und muss auch heute nicht Gleichmacherei bedeuten. In einem politisch verfassten sozialen Europa können wir den Beweis dafür antreten, indem wir den Einzelnen nicht schutzlos dem Mahlwerk einer global operierenden Wirtschaft und Großfinanz
aussetzen und bei der rechtlichen Ausgestaltung Europas ein hohes Maß an Sicherheit bieten, aber zugleich Raum lassen für verschiedene Lebensstile und für die Beheimatung in gemeinschaftlichen Lebensformen. Moderne Gesellschaften, das ist eine wichtige Einsicht, können auf Gemeinschaftlichkeit nicht verzichten. Das Soziale bekommt seinen emotionalen und moralischen Inhalt und seine Anschaulichkeit aus der Erfahrung der Gemeinschaftlichkeit, die Gemeinschaft erst gibt den Menschen jene emotionale Stabilität, die sie brauchen, um die Herausforderungen des Lebens zu bestehen. Die alberne Vorstellung, der moderne »nomadisierende« Mensch bedürfe keines stabilen Beziehungsgeflechts, keiner vertrauten Umgebung, wird durch einen Blick auf die Tatsachen
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