Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
psychische Disposition, die die elementare Ungewissheit unseres Schicksals nicht aufhebt, die uns aber in der Praxis des Lebens stabilisieren kann, indem sie den Blick von der Zukunft auf das Jetzt, von
dem Leben nach dem Tod auf das Leben vor dem Tod lenkt – dem einzigen Leben, über das wir etwas wissen können. Sie ist eine Haltung, die mit der Selbstverantwortung und Rationalität des modernen Menschen vereinbar ist, die die eigene Endlichkeit akzeptiert und sie dennoch in der Liebe transzendiert. Menschen, die in der Liebe und im Humor Lebenszuversicht finden, gehen nicht demütig unter dem Joch, aber sie versteigen sich auch nicht zu der Vorstellung, dass es die Aufgabe des Menschen sei, als Individuum oder als Gattung die vollständige Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. Sie sind bescheiden genug, sich mit den eigenen Beschränkungen abzufinden, und stolz genug, sich weder der göttlichen Willkür noch der Gewalt des »sterblichen Gottes«, als welchen Hobbes den Staat charakterisierte, zu unterwerfen, um auf diese Weise eine trügerische Sicherheit zu gewinnen. Sie gehen erhobenen Hauptes ihren Gang durch die wunderbare Vielfalt des Lebens, durch das unentwirrbare Chaos der Welt, bis sich ihr Leben rundet.
5. Die Neuordnung der sozialen Welt
Eine verbreitete naive Vorstellung vom Prozess der Globalisierung besagt, dass die moderne Kommunikationstechnik die Menschen aus fernsten Weltgegenden zu Nachbarn macht und die ganze Welt schließlich zu einem »globalen Dorf« zusammenwachsen lässt. Ein Dorf, in dem jeder mit jedem nach Belieben kommuniziert und im Prinzip alles über jeden weiß oder zumindest wissen kann, in dem alle sich mit den mehr oder weniger gleichen Produkten umgeben und mehr oder weniger intuitiv nach den gleichen Regeln leben, wo immer sie sich gerade auch befinden mögen. Aber die beliebte Rede vom »globalen Dorf« führt in die Irre. Es spricht wenig dafür, dass die moderne Technik und Wirtschaftsweise mit der Zeit eine einzige ihr angemessene Lebensweise erzwingt, die die ganze Welt zu einer kulturell mehr oder weniger homogenen Gemeinschaft werden lässt. Vor allen Dingen wäre es keineswegs wünschenswert. Die Welt ist keine digital vermittelte Gemeinschaft und wird auch nie eine sein. Sie ist, wie Christoph Antweiler zu Recht betont, auch im digitalen Zeitalter eher »Stadt« als »Dorf«, d. h. sie ist die gemeinsame Heimstatt vieler verschiedener Lebensgemeinschaften und vieler verschiedener Kulturen, die zwar zahlreiche kulturelle Gemeinsamkeiten, sogenannte Universalien, aufweisen, aber sich gegen eine umstandslose Vereinheitlichung dennoch entschlossen sperren. Um es mit Antweiler auf eine knappe Formel zu bringen: Die Menschen leben verschieden in einer Welt, 85 d. h. auch im globalen Zeitalter hebt die Einheit der Welt das Anderssein nicht auf.
Als Verschiedene in einer Welt zu leben, bedeutet aber, dass wir uns im Weltmaßstab auf Regeln und Normen verständigen
müssen, die es uns ermöglichen, miteinander zivilisiert umzugehen, ohne das Anderssein der anderen zu negieren. Dies ist genau das, was sich in der städtischen Lebensweise über viele Jahrhunderte hinweg allmählich entwickelt hat und was moderne Demokratien im nationalen Rahmen rechtlich und institutionell sicherstellen sollen. Freilich bezogen die traditionellen städtischen Lebensgemeinschaften und die nationalen Rechts- und Sozialordnungen ihre Anschaulichkeit und Verbindlichkeit weitgehend aus der plausiblen territorialen Unterscheidung von Eigenem und Fremdem , von Innen und Außen. In dem Maße, in dem diese klaren Trennungen heute verwischt werden und die Welt auch lebenspraktisch zu einer Welt wird, büßt der soziale Kontext des eigenen Lebens seine Selbstverständlichkeit ein, zerbröckeln die lebensleitenden Institutionen, verlieren die Menschen jenen Halt, ohne den sie ihr Leben nicht selbstbestimmt führen, d. h. eben auch planen können.
Heute ist klar, dass ohne ein Mindestmaß an verbindlicher Ordnung im Weltmaßstab dieser Verfallsprozess und damit auch die Ängste, die er auslöst, nicht zu stoppen sind. Die Rekonstruktion des Sozialen kann nicht durch einen Rückzug aus der globalen Welt erfolgen. Der einzige gangbare Weg besteht darin, die weltweiten Wechselbeziehungen durch Institutionalisierung und rechtliche Rahmensetzung berechenbar und steuerbar zu machen. Das gilt für die Fragen der Friedenssicherung ebenso wie für globale Umweltfragen oder für die Regulierung
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