Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
gesellschaftlichen Werten orientierte Unternehmensführung auch in der Marktwirtschaft möglich. Solange aber die gegenwärtige Ökonomie und Marktordnung unsoziales und umweltschädliches Verhalten belohnt und das gegenteilige Verhalten bestraft, werden alle diese beispielhaften Initiativen Einzelfälle bleiben. Es kommt darauf an, die Rahmenbedingungen,
d. h. die Wirtschaftsordnung grundlegend zu verändern.
Der Zusammenbruch marktradikaler Modelle, der sich am deutlichsten in der Krise des Weltfinanzsystems manifestiert, sowie die drohende ökologische Katastrophe eröffnen heute die Chance, einen tief greifenden Wandel der Lebens- und Wirtschaftsweise einzuleiten. Europa kann, wenn es nationale Eifersüchteleien überwindet und sich auf die Quellen seiner innovativen Kraft besinnt, zum Labor einer humaneren Zukunft werden. Statt in der gegenwärtigen Krise im Euro-Raum nach dem Debakel der oktroyierten Sparpolitik nun wieder auf ein undifferenziertes ökonomisches Wachstum zu setzen – was allerdings zu befürchten ist –, käme es darauf an, in Europa zu demonstrieren, dass eine Wende zur Energieversorgung aus regenerativen Quellen, dass ein mit ökologischen Erfordernissen vereinbares Mobilitätskonzept und schließlich der Aufbau einer emissionsfreien Kreislaufwirtschaft möglich ist. Auf diesen Feldern eröffnet sich zugleich die Möglichkeit eines friedlichen Wettbewerbs mit den USA einerseits und mit den neuen asiatischen Großmächten andererseits, von dem am Ende die ganze Welt profitieren könnte.
Ich wage zum Abschluss dieses Kapitels die Skizze einer Utopie, von der ich glaube, dass sie hinreichend geerdet ist, um vielleicht eine befreiende Praxis anleiten zu können. Sie beruht auf einer Prognose bezüglich der Zukunft der Arbeitsgesellschaft, die mir gut begründet erscheint: Auf lange Sicht werden – jedenfalls im Marktsektor – alle Arbeiten automatisiert, in denen die Arbeitsvollzüge vollständig definiert und berechnet werden können. Übrig bleibt dann als von Menschen zu verrichtende Arbeit vor allem das, was nicht automatisiert werden kann: leitende und beratende Tätigkeiten in Wirtschaft und Verwaltung, Marketing und Werbung, ein Teil der handwerklichen und bäuerlichen Arbeiten, Erfinden,
Planen, Entwickeln, Warten, künstlerische Produktion, das ganze ausgedehnte und bunte Feld der personenbezogenen Dienstleistungen: Kommunizieren, Motivieren, Lernprozesse organisieren, mit Menschen umgehen, sich kümmern, trösten, pflegen – alles das, was Maschinen nun einmal nicht können, weil darin (in unterschiedlichen Graden) das Moment der Freiheit zur Geltung gelangt.
Statt wie bisher an der Privilegierung der Maschinenarbeit und an der zwanghaften Steigerung des Konsums festzuhalten, könnten wir die utopischen Möglichkeiten nutzen, die Rationalisierung und Automation im digitalen Zeitalter eröffnen, zumal wenn sie, was heute zumeist der Fall ist, mit einer Reduzierung des spezifischen Energieumsatzes und Materialverbrauchs einhergehen. Tun wir dies, so ergeben sich zum einen bisher nicht für möglich gehaltene Chancen der Entlastung von fremdbestimmter und belastender Arbeit und der Mehrung frei verfügbarer Zeit für alle durch herkömmliche und neue Formen der Arbeitszeitverkürzung – Sabbatregelungen, Weiterbildung, Familienzeiten, flexible Übergänge in die Rente ... Zum anderen – und das ist womöglich entscheidend – ist der Typus der Arbeit, der lebensnotwendig ist und nicht wegrationalisiert werden kann, in der Regel menschlich anspruchsvoller: Er eröffnet häufig größere Möglichkeiten der Sinnstiftung und der autonomen Gestaltung und bietet intrinsische Gratifikationen, die weit über das hinausgehen, was die klassische Industrie- und Büroarbeit gemeinhin zu bieten hat. Eine wirklich moderne, an den Bedürfnissen der Menschen und nicht an der Kapitalverwertung orientierte Dienstleistungsgesellschaft ist möglich; sie könnte befriedigende und humane Arbeitsmöglichkeiten für alle bieten, und zwar auch für die, die nicht die höheren Weihen des Bildungssystems erhalten haben, sie könnte, weil allmählich andere Quellen des Lebensglücks wichtiger werden, uns nach und nach vom Zwang, immer mehr konsumieren zu müssen, erlösen.
Die viel beredete Erschöpfung der Arbeitsutopie ist nur dann plausibel zu konstatieren, wenn wir uns von den alten dogmatischen Vorstellungen von Arbeiteravantgarde und Klassenkampf, Verstaatlichung der
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