Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
widerlegt. Gerade mal drei Prozent der Weltbevölkerung leben heute dauerhaft außerhalb ihres Heimatlandes, und der weitaus größere Teil davon würde liebend gern in die Heimat zurückkehren, wenn die politischen und materiellen Lebensbedingungen dort es erlaubten. Das ist auch in einem Europa der Freizügigkeit nicht anders. Selbst die oft als Gegenbeispiel genannten neuen Nomaden der modernen Business-Welt haben zumeist einen Rückzugsort, einen festen Freundeskreis, eine Familie, aus denen sie die Kraft für ihre strapaziöse Lebensweise beziehen.
Wenn wir in Europa Ernst machen mit einer nach dem Subsidiaritätsprinzip gestalteten Mehrebenendemokratie, können wir die Fortschrittsdynamik so verändern, dass die Menschen sich in ihrer Lebenswelt wieder geborgener fühlen. Wir können die Wirtschaftstätigkeit wieder in die gesellschaftliche Praxis einbetten und sie so an soziale Normen binden; wir können die auch in Europa ins Obszöne getriebenen Unterschiede zwischen Arm und Reich reduzieren, die Innovationsgeschwindigkeit auf ein menschliches Maß zurückführen und die Komplexität der im täglichen Leben zu bewältigenden Probleme verringern; wir können die Gesellschaft funktional
dezentralisieren, die soziale Produktivität kleinerer Einheiten stärken und die Abhängigkeit von Fremdleistungen durch die Stärkung der individuellen und kollektiven Selbsthilfekompetenz zurückführen; wir können die Herausbildung eines neuen Techniktyps gemäß sozialen und ökologischen Parametern fördern und den wissenschaftlich-technischen Zugriff auf die außermenschliche und die menschliche Natur bewusst beschränken.
»Der Kapitalismus in der bisherigen Form passt nicht länger zu unserer Welt«, hat der Leiter des World Economic Forum in Davos, Klaus Schwab, in einem Interview mit der Financial Times Deutschland gesagt. 86 Wie die Alternative aussehen kann, hat er jedoch nicht gesagt. Immerhin deutet er an, dass Unternehmer und Manager wieder in längeren Fristen denken müssten. In längeren Fristen denken, das könnte eine Annäherung an den Gedanken der Nachhaltigkeit bedeuten, und Nachhaltigkeit, wenn es sich um mehr handelt als ein Modewort, könnte als Leitgedanke in der Tat zu einer anderen Ökonomie führen – einer Ökonomie, die den Menschen ein gutes Leben in einer weitgehend stabilen Lebenswelt ermöglicht. 87 Allerdings nur, wenn die Abkehr von der einseitigen Orientierung an Gewinnmaximierung bzw. an der Steigerung des Aktienwerts erfolgt. Dies aber ist nur zu erreichen, wenn eine Ausweitung des Mitspracherechts aller Unternehmensangehörigen mit der Verpflichtung auf einen breiteren Fächer von Unternehmenszielen, der auch ökologische und soziale umfasst, einhergeht.
Bei vielen genossenschaftlichen und kommunalen Unternehmensmodellen ist das heute schon der Fall. Insbesondere dann, wenn Unternehmen für einen regional begrenzten
Kundenkreis produzieren, können sie auch unter den heutigen Marktbedingungen auf Wachstum verzichten. Die Gewinne fließen dann in Forschung und Entwicklung, in Ersatzinvestitionen, in ökologische und soziale Verbesserungen, in die Weiterbildung der Angestellten, in die betriebliche Alterssicherung, in Arbeitszeitverkürzung und in höhere Gehälter und Löhne. Der Verzicht auf Expansion bedeutet durchaus nicht Stillstand. Die Steigerung der Produktivität, die Erhöhung der Produktqualität, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die Ausweitung des sozialen und kulturellen Engagements – all dies ist auch ohne Wachstum im üblichen Sinn möglich. In der Regel sind die Arbeitsplätze in solchen Unternehmen besonders sicher, ist die Fluktuation beim Personal gering, da die Unternehmen sich mehr um die sozialen Belange der Mitarbeiter und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen kümmern können. Dies alles hat zur Folge, dass die Menschen, die in solchen Unternehmen beschäftigt sind, ihr Leben viel zuverlässiger planen können als die, die in Unternehmen tätig sind, die sich dem Gewinnmaximierungs- und Wachstumszwang auf umkämpften Märkten unterwerfen. Wie das Beispiel des Bremer IT-Unternehmers Rossol, wie die zahlreichen Beispiele von Unternehmen zeigen, die sich in Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und Spanien der Initiative zur Förderung einer Gemeinwohl-Ökonomie angeschlossen haben, 88 wie auch viele ähnliche Experimente in den USA beweisen, ist eine solche an den Lebensinteressen der Menschen und an den dominierenden
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