Gesetze der Lust
legte die Checkliste beiseite. Aus einem bestimmten Grund war ihr heute Abend danach, irgendjemanden windelweich zu prügeln.
Michael Dimir – Suzanne tippte den Namen bei Google ein und hielt kurz inne, bevor sie die Entertaste drückte.
Seit Tagen schob sie es vor sich her, nach dem Jungen zu suchen, der sich in der Sacred Heart hatte umbringen wollen. Es tat zu sehr weh, daran zu denken. Doch nun konnte sie es nicht mehr vermeiden. Nach einem einzigen Treffen mit Father Stearns hatte sie erkannt, dass er ein Mann war, mit dem man rechnen musste. Selbst jetzt, allein in ihrer Wohnung, erinnerte sich ihr Körper nur zu gut an den ersten Schock, den sie verspürt hatte, als sie ihn das erste Mal sah. Und als sie miteinander gesprochen hatten, hatte sie sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass er mit ihr spielte. Er hatte erwartet, von Reportern aufgesucht zu werden – so viel war offensichtlich gewesen. Und doch hatte er nicht das kleinste Anzeichen von Angst oder Nervosität gezeigt.Selbst die Unschuldigsten wurden in der Gegenwart von Reportern ein wenig nervös. Wer zum Teufel war dieser Priester?
Suzanne drückte Enter und überflog die ganzen Treffer. Sie hasste sich dafür, Schmutz über einen Teenager auszugraben. Aber bei Father Stearns war sie auf eine undurchdringliche Mauer gestoßen. Vielleicht hätte sie bei einem seiner Schäfchen mehr Glück.
Über den Selbstmordversuch wurde natürlich nirgendwo etwas geschrieben. Da der Junge zu dem Zeitpunkt noch minderjährig gewesen war, hatten die Zeitungen seinen Namen nicht veröffentlichen dürfen. Sein Name – Dimir … der junge Michael muss osteuropäische Wurzeln haben, dachte sie. Während ihrer zwei Monate in Rumänien und Serbien hatte sie einige Dimirs kennengelernt. So ist es gut, sagte sie sich. Bleib professionell, bleib vage, bleib unpersönlich. Denk nicht als Mensch an ihn, als Kind, als katholisches Kind, das die Kirche liebte und seinem Priester vertraute und das …
Mit einer wütenden Handbewegung wischte Suzanne sich die Tränen vom Gesicht. Sie klappte ihren Laptop zu, bevor sie auch nur ein Fitzelchen an Informationen über Michael Dimir gelesen hatte. Sofort fühlte sie sich besser. Falls der Junge aus dem Grund versucht hatte, sich umzubringen, den sie vermutete, wollte sie ihn nicht noch einmal verletzen. Sie musste sich auf ihr Ziel konzentrieren, und das hieß Father Marcus Stearns.
Sie starrte auf ihren zugeklappten Laptop und wusste, ihn wieder zu öffnen wäre sinnlos. Ihr fiel ein altes Zitat ein. Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten .
Sie könnte noch so lange im Internet recherchieren, das würde sie der Wahrheit über Father Stearns kein Stückchen näher bringen.
Obwohl sie nicht länger an Gott glaubte, wusste Suzanne, dass sie gerade Seine Arbeit tat. Irgendwo musste irgendjemand irgendetwas über Father Stearns wissen – etwas, das schlimm genug war, um diesen Jemand dazu anzutreiben, ihr einen anonymenHinweis zu schicken. Warum gerade ihr, wusste sie auch nicht. Es gab Tausende Journalisten im Großraum New York. Sie hatte immer nur als Kriegsreporterin gearbeitet.
Vielleicht wusste der Unbekannte, dass er jemand Mutigen finden musste, jemanden, der keine Angst vor Krisengebieten hatte und immer bemüht war, die Wahrheit herauszufinden. Mit Krisengebieten kannte sie sich aus. Sie hatte Dutzende davon besucht: Sudan, Pakistan, Afghanistan, Irak … Um sie herum waren Bomben explodiert, sie hatte Soldaten gesehen, die direkt vor ihren Augen von Sprengkörpern zerfetzt wurden. Aber bis jetzt hatte sie noch nie diese Form der realen Angst erlebt, die sie im Angesicht von Father Stearns erfasst hatte. Sie würde sich von ihm nicht einschüchtern lassen. Nicht von einem einzelnen Mann. Nicht, wenn sie normalerweise Kriegsgebiete mit keinerlei Bewaffnung außer ihrer Kamera betrat. Sie würde noch mal in die Kirche gehen. Sie musste einfach.
Das Klingeln des Telefons riss Suzanne aus ihren düsteren, entschlossenen Tagträumen.
„Patrick“, hauchte sie in den Hörer. „Es tut mir so leid …“
„Nicht“, sagte er verlegen, und sie ließ erleichtert die Schultern sinken. Aus irgendeinem Grund war sie seit ihrem Streit mit Patrick nur noch ein Wrack. Jetzt, wo sie miteinander Schluss gemacht hatten, machte sie sich mehr Gedanken über ihn als zu der Zeit, als sie zusammen gewesen waren. „Es ist alles meine Schuld. Du bist kaum fünf Minuten zurück in den
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