Gesetzlos - Roman
(das
Brevier von Renaud de Bar
, ein Werk, das ich schon einmal im Original bewundern konnte, und zwar in der Bibliothek meiner Heimatstadt), es stellt eine Schnecke dar, die mit dem Bogen auf einen Hasen zielt, der auf einem Löwen daherreitet.
Ich trat ein.
Petrus Lebaz saß auf einem Barhocker hinterm Ladentisch.
Vor dem Ladentisch stand mit dem Rücken zu mir eine hochgewachsene Frau in einem granatroten Kleid, eine junge Frau mit herrlichem blonden Haar, von dem genau die Hälfte, die rechte Hälfte, nicht in den Rücken und frei über die Schulterblätter fiel, wie auf der linken Seite, sondern die entblößte Rundung ihrer Schulter bedeckte und umschmeichelte.
Sie unterhielt sich mit dem Buchhändler. Sie drehte ein wenig den Kopf, als ich eintrat, wandte sich jedoch nicht um.
Kann ich dem Leser in die Augen sehen und ihm glaubhaft versichern, dass ich überzeugt war, vor Clara Nomen zu stehen?Nun, ich tu’s. Die vielen ineinanderschmelzenden Blondtöne ihres Haars – und vor allem die Intensität meines Wartens, die in einen wahrhaften Schmerzanfall gipfelte, als ich auf sie zusteuerte, ließen daran keinen Zweifel.
So neigte sich die Geschichte ihrem Anfang zu – und so begann ich, im festen Glauben an den Glanz einer eroberungslustigen Sonne, die mir das nötige Feuer und die nötige Kraft verleihen würde, um auf meinem glorreichen Weg in die Zukunft zu schreiten, erneut zu zittern – aber ich zitterte auch vor Angst, von ihr aufgezehrt zu werden auf dem armseligen Pfad in ein Schicksal ohne Zukunft – schlimmer noch, ohne Heute –, so heftig und jäh würde die Aufzehrung womöglich sein.
»Nur zu, ich höre«, sagte Petrus Lebaz mit seiner unangenehmen Stimme zu ihr.
Plötzlich herrschte absolute Stille, wie sie zuweilen in der schmalen Nebenstraße einer Stadt vorkommt – und aus dieser Stille erhob sich diesmal die liebreizende Stimme der jungen Frau, Clara, die zu meiner unendlichen Verblüffung zu rezitieren begann:
Die Liebesträume früher Jahre
sind sämtlich mit der Zeit entschwunden
…
Ebenso plötzlich wie die Stille eingetreten war, wurde sie von dem Krach eines dicken Motorrads unterbrochen, der durch die enge Rue de Dragon ins Unerträgliche gesteigert wurde.
Dann verebbte der Lärm wieder.
In der Sekunde, als die junge Frau wieder anheben wollte, brachte ich, an ihre rechte Seite tretend, doch ohne sie anzusehen, die Rezitation des Vierzeilers zu Ende:
…
Auf dass ich in Erinnerung wahre
mein Warten, bis ich dich gefunden
,
Theatralisch? Ja, aber was soll man dagegen tun? Was sollte ich jetzt sagen? (»Jetzt«!) Die Wirklichkeit dieser Augenblicke verzerren, um eine glaubhaftere Darstellung von ihnen wiederzugeben? Nein. Ich beschloss die Rezitation des Vierzeilers unter den eben beschriebenen Umständen.
Clara und ich sahen uns an.
Endlich durchtrennten wir das Band der Abwesenheit, und die Glut unserer Blicke vereinte uns zum ersten Mal.
»Sie kennen diesen Vierzeiler?«, fragte sie anmutig und natürlich.
»Ja. Aber ich kenne den Autor nicht«, antwortete ich (weniger anmutig und natürlich. Und auf den Buchhändler auf seinem Hocker zeigend:) »Ich war gekommen um den Herrn hier zu fragen, ob er mir in dieser Hinsicht weiterhelfen könne …«
»Ich auch!«, sagte Clara.
Petrus Lebaz wendete den Blick ab.
»Leider weiß ich es nicht«, sagte er. Er wand sich vor Unbehagen und verkniff missmutig die Miene.
Dann stieg er von seinem Hocker. Sein Kopf ragte knapp über den Ladentisch, entweder hatte er sich aus irgendeinem Grund hingehockt, oder aber er war noch kleiner als man nach seinem Auftritt im Fernsehen vermutet hätte.
Jedenfalls hörte er gewissermaßen auf zu existieren, und auch seine Buchhandlung du Dragon.
Es folgte ein merkwürdiger Dialog zwischen Clara und mir:
»Sind Sie Clara Nomen?«
»Ja«, sagte sie verwundert.
»Ich heiße Luis Archer.«
»Luis Archer! Mireille hat mir gesagt, dass Sie in meiner Abwesenheit angerufen haben … ich kenne Sie von ihren Bearbeitungen, die ich so gerne spiele, aber … wir sind uns nie begegnet?«
»Nein. Ich werde es Ihnen erklären. Aber Sie selbst …« (ich konnte nicht umhin, die Frage zu stellen:) »Geht es Ihnen gut? Ist Ihnen nichts Schlimmes zugestoßen?«
»Nein, nichts Schlimmes! Aber woher wissen Sie …«
»Ich werde es Ihnen erklären. Wären Sie einverstanden, wenn wir uns woanders unterhielten …«
Mit dem Finger deutete ich vage auf irgendeinen Ort außerhalb der
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