Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
Vom Netzwerk:
eine Verschwundene, sie war überall und nirgends zugleich.
    In der Rue des Saints-Pères staute es sich. Als ich den Boulevard Saint-Germain erreichte, sah ich zu meiner Rechten eine Buchhandlung, L’Étape, die ich nie zuvor gesehen hatte, die neu sein musste (man hatte allen Grund anzunehmen, dass der Buchhandel im Viertel florierte) – dies ist vielleicht ein günstiger Moment um zu erwähnen, dass ich bei meiner Fahrt entlang des Boulevard Saint-Germain natürlich den Hintergedanken im Kopf hatte, mich bei der nächsten Gelegenheit zur Buchhandlung du Dragon zu begeben, in der hartnäckigen Hoffnung, der bucklige Petrus Lebaz würde die vier Verse kennen, die die erste Seite meines Tagebuchs zierten. Vor L’Étape, der neuen Buchhandlung, hielt ich, beide rechten Räder auf dem Bürgersteig, wütender Blick einer Passantin, die ich nicht sonderlich behinderte und die sich drei Schritte weiter mit ebenso wütendem Blick erneut umdrehte – um Maxime ein letztes Mal zu zitieren: »Ich schwöre, wenn ihre Augen Propangasflaschen gewesen wären, hätte sie mich erstickt« –, im Laden, weitere Überraschung, las ich nur Namen mir unbekannter Autoren, darunter ein gewisser Vielschreiber namens Maurice Duplat, zwei gut präsentierte Stapel auf einem Tisch (die beiden oberen Bücher:
Ein Zettel an derTür
und
Also dazu sag ich nichts
), ein Schriftsteller, der unter dem Namen Duplat völlig unbekannt, aber unter seinen sechsunddreißig Pseudonymen berühmt war – derselbe Maurice Duplat, über den ich einige Stunden später erfahren sollte (der Zufall, der mich zur
L’Étape
geführt hatte, agierte heute ebenso eigenwillig wie geschickt), dass er der zweite Mann von Sylvie, Claras Urgroßmutter mütterlicherseits war.
L’Étape
: unbekannte und vergessenen Bücher? Würde ich den mürrischen Buchhändler, der ohne den Blick zu heben in seiner Ecke saß und las, fragen, ob er mir bei der Suche nach vier Versen weiterhelfen könne, die ich ihm gleich rezitieren würde? Ich überwand mich und murmelte ihm meinen Vierzeiler hin, er schüttelte darauf den Kopf und die Angelegenheit war beendet. Eine harte Probe!
    Nun, ich würde mich bald der nächsten Probe unterziehen müssen – nein, nicht »mich unterziehen«, vielmehr war sie großartig, ein Moment höchster Freude, den ich bei Petrus Lebaz durchlebte, warum, kann man sich denken.
    Ich ging hinaus, fuhr ein wenig herum, fand (wie durch ein Wunder) einen Parkplatz am Boulevard Saint-Germain, fast gegenüber der Rue du Dragon, und vor einem kleinen gerade eröffneten Kinosaal,
La Caverne de Platon
, (ja, ich wiederhole es, die neuen Orte schienen an diesem Montag, den 2. Juni 2008 geradezu aus dem Boden zu schießen). Wäre da nicht dieser plötzlich drängende Ruf der nahe gelegenen Buchhandlung du Dragon gewesen, und vielleicht auch, weil das erbarmungslose Schicksal gewollt hatte, dass Maxime am vergangenen 24. Mai den Tod fand, anstatt dass wir gemeinsam
The Narrow Margin
im Ciné-Lumières von Vivier-sur-Marne ansahen, hätte ich wohl dem Drang nachgegeben,
The Far Horizons
von Rudolph Maté von 1955 wiederzusehen, und sei es auch nur um des verwirrend unsymmetrischen Blicks von Donna Reed willen.
    Rue du Dragon.
    Ein Mann meines Alters kam aus einem Laden, rempelte mich an, »entschuldigen Sie«, »keine Ursache«. Mein Blick fiel auf eingroßes Gemälde in einem Schaufenster: Im selben Augenblick, in dem ich nach der Unterschrift des Malers suchte, erkannte ich darin ein Gemälde von Michel Nomen, das dem Werk auf der Staffelei im Haus von Saint-Maur derart ähnlich sah! (Wie man feststellen wird – und bereits weiß: noch ein Streich, den mir das Schicksal spielte.) Meine Kehle schnürte sich zu. Ich war einer Ohnmacht nahe, gegen die ich mich jedoch wehrte – mit einer solchen Energie, dass ich den Eindruck hatte, um mein Leben zu ringen – und die ich schließlich besiegte, indem ich es bei einer erschütternden Fassungslosigkeit beließ: Die Galerie Jacoudot in der Nummer 17 der Rue du Dragon stellte also Werke von Claras Onkel aus, das hätte nicht zwangsläufig so sein müssen, aber es war nun einmal so, nicht mehr und nicht weniger, ich betrachtete das Bild für einen Augenblick und setzte dann meinen Weg fort.
    Nicht lange, denn die Buchhandlung du Dragon (die in hübschem Hellblau gestrichen war) befand sich in der Nummer 21a.
    Über der Tür hing die Reproduktion einer Miniatur, die eine Manuskriptseite aus dem 14. Jahrhundert schmückte

Weitere Kostenlose Bücher