Gesetzlos - Roman
glaube ich, der wahre Auslöser für das Unterfangen war, sein wahrer Anfang), vernichtend wegen des furchtbaren Ausgangs (ich spreche hier nicht von dem Ereignis, das am Freitagnachmittag den 6. Juni stattfand, so unvorstellbar und zerreißend es auch gewesen sein mag, nein, ich spreche von etwas anderem, das sich einige Stunden später zutrug) – vernichtend wegen des furchtbaren Ausgangs, der auf alles andere folgte.
Ja, aber am 30. Mai wusste ich das noch nicht. Ich konnte mich nur fragen (ich erbebte allein bei dem Gedanken, diese Furcht auszusprechen), ob ich eines Tages Clara, die Schönste, sehen, wiedersehen würde. Denn meine Hoffnung schwand, meine Hoffnung verlor im Laufe dieses einsamen Wochenendes den Boden unter den Füßen, meine Hoffnung wurde begraben (ich war ihr Grab), und ständig verlieh ich meinem Erstaunen Ausdruck: Mein Gott, an welcher Schimäre hängt doch mein Leben, welcher Wahn nagt seit jener Sekunde an mir, als ich Clara Nomens Portrait in Saint-Maur erblickt habe?
Am Sonntagmorgen kam ich (nur schlecht) mit meinem
Adagio con fuoco
und
Morendo ma non troppo
voran. Entmutigt sagte ich mir … aber, um wiederzugeben, was ich mir damals sagte, kopiere ich einfach die drei Zeilen, die ich am Sonntagabend gegen achtzehn Uhr in mein Heft geschrieben hatte – nicht aus Faulheit, sondern weil mir eine Stunde eifrigen Bemühens gerade gezeigt hat, dass ich mich nicht anders ausdrücken kann, ohne Gefahr zu laufen, die Dinge, die mir während des Kalligraphierens von Sechzehntelnoten mehrfach durch den Kopf gingen, zu sehr zu verdunkeln oder sie im Gegenteil bis zur Bedeutungslosigkeit zu vereinfachen: »Probleme, mit meinem
A. con f
. und
M. ma non t
. weiterzukommen, Müdigkeit, Angst vor dem, was ichwill (Clara begegnen und sie körperlich lieben), Angst, mit dem Leben fertig zu sein, wenn schon nicht mit dem Komponieren«, das war’s, ich wüsste nicht, wie ich es anders ausdrücken sollte.
Um neunzehn Uhr fünfzehn, als wollte ich mit der Welt wieder in Kontakt treten, schaltete ich den Fernseher ein. Ich stieß auf die Lokalnachrichten. Für zwei Minuten interessierte ich mich für die Worte eines gewissen Petrus Lebaz, eines hässlichen, kleinen (und gebeugten) Mannes, dessen Haut ölig glänzte, ein aufgeblasener Fatzke, der kürzlich eine Buchhandlung in der Rue du Dragon übernommen hatte, die Buchhandlung du Dragon (ehemals Buchhandlung Maximilien Tiplont-Lanjuq). Mit einer schwer erträglichen Stimme, die zu oft die Tonhöhe wechselte, rühmte sich dieser Lebaz seiner geradezu enzyklopädischen Kenntnisse über alte, nicht mehr aufgelegte, unauffindbare Bücher, die er in großer Zahl angehäuft hatte und nun unter die Leute bringen wollte.
Dann, gegen zweiundzwanzig Uhr, schlief ich auf meinem Sofa ein.
So richtig erwachte ich aus meiner Benommenheit erst am Montag, den 2. Juni, am frühen Nachmittag. Ich wusch mich ausgiebig, warf mich in Schale (mit zweiundvierzig Jahren minus vier Tagen konnte ich getrost als der schönste und verführerischste Mann durchgehen, den es je gegeben hatte, Maxime hatte nicht ganz Unrecht gehabt, als er mir diese höchsten Komplimente gemacht, – man möge mir diese Woge der Arroganz verzeihen, aber irgendwann musste sie einfach über dieses Blatt hereinbrechen: Der Moment war gekommen) und beschloss, ein paar Schritte durchs Stadtzentrum zu gehen.
Nachdem ich die Wohnung verlassen hatte, nahm ich nicht etwa den Fahrstuhl, sondern schlenderte die Treppe hinunter. Zwischen dem vierten und dem dritten Stockwerk glaubte ich in meiner Gedankenverlorenheit ein Telefon klingeln zu hören, vielleicht im fünften Stock, vielleicht meines, vielleicht das des Nachbarn, obwohl der verwitwete und einsame Maliport nurnoch wenig Anrufe erhielt – oder aber es war gar kein Telefonklingeln. Lustvoll gab ich mich der Schwerkraft hin, indem ich meine Beine nach Gutdünken die instinktiven Bewegungen ausführen ließ, die mich vor dem Sturz bewahren sollten.
Meine Arme folgten schlenkernd.
Wie ich später (unter welchen Umständen wird man noch sehen) beim Abhören der Nachrichten erfuhr (und wie der Leser bereits weiß), hatte mein Telefon geklingelt. Mireille Bel hatte mich triumphierend angerufen, um mich über Claras Rückkehr zu informieren – aber ich hatte gerade die Wohnung verlassen, und während ich die Stadt in meinem langgestreckten, leistungsstarken Lancia Thema durchquerte (der trotz der Jahre noch immer knallrot war), blieb Clara für mich
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