Gesetzlos - Roman
unglaubliches Geheimnis mit mir teilen würde.
Ein weiteres Rätsel: Es war mir unmöglich, ihr nicht vom ersten bis zum letzten Wort Glauben zu schenken. Sie log nicht. Und ihr Geist war nicht krank, dessen war ich mir sicher, so sicher wie man überhaupt nur sein kann. Unmöglich, ihr zu glauben? Auch das stimmte. Aber ihre Erzählung wurde zu meiner, zu unserer, wir füllten gemeinsam ihre Lücken, den Gesetzen der Plausibilität folgend (aber das habe ich schon erklärt) – und noch beunruhigender war: Während ich Clara all die Stunden zuhörte (und im Laufe der vier folgenden Tage bis zum 6. Juni – denn selbstverständlich mussten wir an bestimmte Stellen unserer Geschichten mehrmals zurückkehren: Präzisierungen, Erläuterungen, Zusätze wurden notwendig), noch beunruhigender war, sagte ich, dass mein Bericht, oder das, was ich als meinen Bericht bezeichne, ganz mein wurde und ich vollkommen zu meinem Bericht wurde, und zwar indem ich im Laufe der Seiten, die der Leser umschlägt, immer mehr in ihm aufging.
Um drei Uhr morgens führte sie mich für die restliche Nacht in ein herrliches Gästezimmer, ein Eckzimmer im ersten Stockwerk. Ein leidenschaftlicher Kuss auf die Wange, ein geschwisterlicher Kuss, und schon entschwand sie wieder in ihr eigenes Zimmer, nicht ohne sich am Ende des Flures noch einmal umzudrehen, um sich mir ein letztes Mal zuzuwenden – sie hatte denCharme, den Schwung, den Impuls eines Walzers von Lauro, wirklich wahr –, und so gingen wir in dieser Nacht bedauernd aber ohne Schmerz auseinander, so weit war unsere Geschichte schon gediehen.
K APITEL 23
AXELS ODYSSEE
Und seinen Wahn preisend steckte der Conquistador
mit geschwächter Hand seinen Wimpel
in die gleißende Erde, wo sein Grab gähnte
.
José-Maria de Heredia,
Jouvences
Das Buch! Entweder du gibst uns dein Leben oder das Buch!
Alphonse de Lamartine,
La Chute d’un ange
Würde man seiner Lüge mit ihren komplexen Windungen, wie überzeugende Lügen sie häufig haben, Glauben schenken? Axel hätte dafür seine Hand nicht ins Feuer gelegt: Mahul, der »neue« Chef der Geheimpolizei war ein ausgemachter Schlaufuchs. Seitdem er sich von Clara verabschiedet, seitdem er sie gerettet hatte, war es ihm im Grunde egal, ob man ihm glauben würde oder nicht. Er wollte bloß Renata Salomone wiedersehen und das letzte Kapitel seiner Memoiren fertig stellen.
Was den Rest anging, scherte er sich wenig um sein eigenes Los.
Wenn er sich dem Schreiben widmete, setzte er sich in die behagliche Opera 2, wo er sich Clara näher fühlte.
Er schlief viel.
Am 2. Juni – denn für ihn war an diesem Tag sehr viel mehr der irdische 2. Juni als der renatische 24. Mai –, am 2. Juni, gen Tagesende, landete er mit Opera auf einem großen Platz, unweit von Renatas Wohnung, dem sogenannten »Marktplatz«, obwohl an diesem Ort seit unvordenklichen Zeiten kein Markt mehr stattgefunden hatte, falls hier überhaupt je ein Markt gewesen sein sollte, wie Renata traurig anzumerken pflegte – er landete also an dieser Stelle – wobei er den Eindruck hatte, als wäre er woanders gelandet, dachte er bei sich, in einem Militärquartier, so wie das Reglement es auch vorsah – ja, es sah hier aus wie in einem Militärquartier …
Eine böse Vorahnung beschlich ihn, als er die hermetisch verschlossene, schützende Raumkapsel Opera verließ. Da sein Geist durch die neun Tage Vorsprung diesmal noch erschütterter war als bei seiner letzten Rückkehr – weil das Band zwischen Clara und ihm, seitdem er sie bis vor die Haustür gebracht hatte, noch stärker geworden war? –, strömte eine noch viel größere Zahl von Ereignissen, die in den »vergangenen« neun Tagen stattgefunden hatten (oder noch stattfinden sollten), auf ihn ein und wurde ihm auf einen Schlag zuteil: Ein Strom von »Erinnerungen« schlug ihm ins Gedächtnis wie eine Überspannung durch unsichtbare und schmerzhafte Informationsstöße.
Und was Axel über sich selbst erfuhr, ließ ihn vor Erstaunen und Angst erstarren (Angst, die jedoch durch ein befreiendes Gefühl der Resignation abgemildert wurde).
Er war am 24. beim Verlassen von Opera gefangen genommen, in eine Einzelzelle gesperrt, am 25. verurteilt und am 28. um fünfzehn Uhr hingerichtet worden – unverzüglicher Tod nach Einnahme der Kapsel, so die Strafe, die auf Hochverrat stand.
Zwischen seiner Verhaftung und seiner Hinrichtung hatte er mit niemandem sprechen können, niemand hatte auf seine Fragen geantwortet, als
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