Gesichter: Roman (German Edition)
einer Studentin aufgehalten worden.
»Sie haben eine interessante Art, Zusammenhänge zu erklären. Sehr ungewöhnlich. Ihr Witz geht auf niemandes Kosten. Geradezu verteufelt human.«
Overkamp hielt den zerlesenen Pschyrembel in der Hand, den Gabor auf seinem Nachttisch gefunden hatte, nachdem er seinem Vater die Wahl seines Studienfaches eröffnet hatte. Darauf eine Karte mit nur sechs Worten: Gute Wahl. Viel Erfolg. Dein Vater .
»Und?«, sagte Overkamp. »Sind Sie nervös?«
»Sollte ich?«
Statt zu antworten, schaute Overkamp wieder in den Medizinatlas. Es kostete Gabor Mühe, nicht mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln.
»Es war sehr aufschlussreich, mal wieder im Auditorium zu sitzen, zwischen all den blutjungen Menschen, die fleißig mitschreiben und Ihnen an den Lippen hängen. Neunzehn, zwanzig Jahre jung und ohne Schimmer von dem, was auf sie zukommt.«
Als Overkamp nichts weiter sagte, tat Gabor ihm den Gefallen und fragte: »Was kommt denn auf sie zu?«
»Überstunden. Keine Zeit für die Familie. Undankbare Patienten und die Erfahrung, kaum etwas ausrichten zu können. Winzige Brötchen backen und nicht über den Tellerrand schauen, sonst endet man noch wie diese Weltverbesserer, getrieben von schlechtem Gewissen darüber, nicht den Planeten retten zu können. Ach du lieber Gott!«
Als Gabor die übertrieben weißen Zähne sah, fiel ihm das Gerücht ein, nach dem Overkamp alle paar Wochen bei den Kollegen der Zahnchirurgie hereinschneie, um seinen Vorrat an Bleichgel aufzufüllen. Entweder wollte Overkamp, dass Gabor als Gegenleistung für seine Unterstützung nur seine Haltung abnickte, oder er wartete tatsächlich auf eine Geste der Dankbarkeit und Wertschätzung, darauf, dass Gabor etwas von sich gab, das Overkamps Rang unterstrich und seine Lebensleistung würdigte.
»Herr Overkamp«, sagte Gabor. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir haben uns noch nie persönlich unterhalten«, sagte dieser und ließ sich auf dem Besucherstuhl vor Gabors Schreibtisch nieder. »Auch Medizinerin?«, fragte er, nachdem er das Porträt von Berit auf dem Schreibtisch entdeckt hatte.
»Meine Frau ist Kunsthistorikerin.«
Overkamp betrachtete erst Berit, dann ihn. Die in alle Richtungen abstehenden weißen Augenbrauen, die Kraterhaut, die spannenden Lippen in der Farbe von gekochtem Schinken. Als ihm das Schweigen zu unbehaglich wurde, stand Gabor auf und trat ans Fenster. Der Anblick des Tiergartens beruhigte ihn, und für einen Moment war er versunken, als wäre er allein im Zimmer. Als er sich umwandte, fixierte ihn der Professor.
»Wissen Sie, wie Sie wirkten, als Sie vor den Studenten gelesen haben? Wie jemand, der nichts mehr erreichen will, weil er schon alles hat. Aber was viel schwerer wiegt: Sie reden über unser Fach, als würde man sich nicht die Hände schmutzig machen. Als käme man unbeschadet aus der Sache raus. Sie geben so ein verflixt sympathisches Vorbild ab. Gut für Sie, denn die Studenten lieben Sie, schlecht für die Studenten, denn das Erwachen wird schmerzhaft sein.«
»Ich sollte also lieber so tun, als machte mir der Job keinen Spaß? Ich sollte ständig Witze über den Anteil arbeitsloser Alkoholiker unter den Schlaganfallpatienten machen, bei denen Hopfen und Malz ohnehin verloren ist?«
»Tun Sie nicht so, als verstünden Sie mich nicht«, sagte Overkamp, bevor er aufstand. »Sie zeichnen ein falsches Bild. Sie idealisieren. Dabei wissen Sie genau, worum es geht: Verantwortung. Schuld. Wem man diese Erfahrung nicht anmerkt, taugt nicht für die Lehre.«
Minuten später saß Gabor noch immer wie versteinert an seinem Schreibtisch. Er griff nach dem Telefon, legte den Hörer aber gleich wieder in die Mulde. Er nahm die Fernbedienung und ließ die Jalousie herunterfahren, deren Lamellen Schatten verbogener Finger an die Wand warfen und den Raum in gedämpftes Licht tauchten. Draußen vom Flur hörte er die Schritte vorbeieilender Pfleger oder Ärzte, und bei dem Gedanken an die vor ihm liegenden Untersuchungen, an die Patientengespräche und die Personalsitzung, die er in zwei Stunden leiten musste, flatterte Panik in ihm auf, ein vielstimmiges Rauschen wie von einem Schwarm abhebender Tauben.
Er schwamm vom Sandstrand der Krummen Lanke bis zur Boje und wieder zurück. Er versuchte, an nichts zu denken, schlug rhythmisch seine Arme ins Wasser. Haubentaucher schaukelten zwischen dem Schilf auf der vom Wind gekräuselten Oberfläche. Das mächtige Rauschen der Bäume schloss
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