Gesichter: Roman (German Edition)
sich über ihm wie eine Glocke. Als das Geschrei der am Ufer tollenden Kinder in sein Bewusstsein drang, hatte er beschlossen, Overkamps Auftritt zu ignorieren. Es war weder eine Prüfung noch ernst gemeinter Rat gewesen, sondern ein harmloses Muskelspiel. Overkamp hatte keine Bühne mehr und verlor, sobald sich eine Gelegenheit bot, jedes Maß. Gabor stieß die Stirn ins seidige Wasser, wühlte sich mit geschlossenen Augen die letzten Meter bis zum Strand und saß, Handtuch über den Schultern, erschöpft inmitten des Trubels, als ihm mit einem Mal das Gesicht des Mannes auf der Fähre vor Augen stand. Der hasserfüllte Blick, mit dem er Gabor durchbohrte.
Er hatte ihn schon vergessen und die letzten Stunden, während das Schiff sich unter wolkenverhangenem Himmel an der Küste Apuliens entlangschob, kein einziges Mal an ihn gedacht. Doch dann sah er ihn wieder. Kurz bevor die Fähre im Hafen von Ancona einlief, wollte Gabor an der Rezeption den Kabinenschlüssel gegen seinen Ausweis tauschen, als er ihn dort stehen sah, am Ende des Tresens, nur wenige Meter von Gabor entfernt, flankiert und an den Armen festgehalten von zwei Offizieren. Die angezogenen Schultern, die Locken mit dem Grauschleier. Er war es. Und er hatte auch Gabor erkannt und starrte ihn voller Hass an, als wäre Gabor für seine Ergreifung verantwortlich, als hätte Gabor ihn verraten.
»Mister Lorenz?« Der Steward hatte ihn an der Schulter berührt. »Mister Lorenz. Your passport.«
Gabor hatte seinen Ausweis entgegengenommen, seine Tasche aufgehoben und war zur Treppe gegangen, die hinunter zu den Parkdecks führte, den wütenden Blick des Mannes im Rücken.
Als Gabor den Wagen in die Parkbucht lenkte, konnte er Yanns Bus nirgends entdecken, aber das musste nichts heißen, denn die Hälfte der Zeit stand der ohnehin in einer Werkstatt und dann kam Yann mit der S-Bahn oder mit dem Taxi. Seit ihrem unangenehmen Telefonat hatten sie nicht miteinander gesprochen, und aus irgendeinem Grund hatte Gabor erwartet, dass Yann sich melden würde, um zu fragen, worüber Lavinia sich eigentlich beschwert hatte, oder um, beleidigt von Gabors Unterstellung, den Besuch abzusagen, aber der Anruf war ausgeblieben. Gabor schaute zur weinroten Fassade ihres Hauses, sah die bunten Vogelbilder auf der Scheibe von Maltes Fenster, den Ausschnitt seines Bücherregals im Zimmer daneben, die Deckenlampe hinter dem Fenster des Wohnzimmers. Er blieb sitzen, bis das Ziehen in der Magengegend nachgelassen hatte.
Im weißen Leinenhemd, das Haar zum Pferdeschwanz gebunden, saß Yann im Wohnzimmer und balancierte ein leeres Weinglas auf zwei Fingern. Berit ihm gegenüber, ein Bein über das andere geschlagen, wippte mit dem gebräunten Fuß, der in einer Riemchensandale steckte. Yann hob das Glas und nickte ihm zu. Gabor beugte sich über seine Frau.
»Wir amüsieren uns schon eine Weile«, sagte sie, wies wie zum Beweis auf die fast leere Flasche. Sie zog seinen Kopf zu sich. Sie hatte einen frischen Chardonnay-Atem und roch nach einer Creme, die er nicht kannte. Er drückte seinen Mund auf ihre Lippen und richtete sich wieder auf.
»Yann erzählt gerade von Mexiko. Er wollte mal ein Auto verkaufen und macht mit einem Interessenten gerade eine Probefahrt, als der sich als Psychopath entpuppt, der sich umbringen will. Er rast durch die Stadt, rammt andere Autos und in einer Kurve überschlagen sie sich.«
»Was? Und was ist dann passiert?«, fragte Gabor.
»Ich hab gedacht: Ich sterbe. Aber ich hatte ein gutes Leben.«
Gabor sah Yann überrascht an.
»Seltsame Geschichte«, sagte er. »Wo sind die Kinder?«
»Oben.« Berit gluckste und steckte schon wieder die Nase ins Glas.
Malte spielte allein in seinem Zimmer und Nele lag auf ihrem Bett, während der Hit aus ihrer Anlage säuselte, den die Inselcafés diesen Sommer rauf und runter gespielt hatten. Es zerriss Gabor das Herz. Die ausgestreckten dünnen Arme ragten über den Rand des Bettes, ihr Mund stand offen, ihr Blick war wie erloschen. Sie antwortete nicht, als er fragte, ob er reinkommen dürfe. Er blieb im Türrahmen, lauschte der Musik.
»Wovon singt sie gerade? Liebe? Schmerz? Triantáfyllo ? Was heißt Triantáfyllo ?«, fragte er. Endlich kam das genervte Tochterstöhnen. Angewidert verzog sie das Gesicht. »Was singt sie?«, setzte er nach. »Du bist meine Rose? Du riechst wie eine Rose?«
»Hör auf!«, rief sie, doch ihre Miene klarte auf. »Sie singt: Ich trage dich bei mir. Wie eine Rose im
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