Gesichter: Roman (German Edition)
Lichtschutzfaktor dreißig. Das Wort »Bravo« hallt herüber, ohne dass jemand zu sehen ist. Ich sehne mich nach Dir. G.
Er blickte wieder auf die Vorderseite. Keine Zeichen, nirgends eine Spur. Seine Augen wanderten über den fotografierten Strandabschnitt: Sonnenschirme als winzige Punkte, vereinzelte Menschen, die im Sand liegen, klein und unscharf. Eine Reihe Tamarisken, daneben der Campingwagen, an dem Sandwiches und Getränke verkauft werden. Zum dritten Mal hielt er die Karte etwas näher, bis er zum dritten Mal die Schrift des Poststempels auf der italienischen Briefmarke las. Modena. Sein Herz schlug wie verrückt. Sie waren auf der Fahrt nach Berlin auch an der Stadt vorbeigekommen, hatten sogar ganz in der Nähe in einer Raststätte zu Abend gegessen. Er verstand es nicht. Er hatte doch gesehen, wie der Mann festgesetzt worden war, die beiden Offiziere, die ihn festgehalten hatten. Seine Gedanken nahmen Anlauf, stießen aber immer wieder gegen eine Wand, hinter der er das von Wut verzerrte Gesicht des Mannes sah. Mister Lorenz. Your passport. Er hatte die Karten mit ihrer Adresse und er kannte seinen Namen.
Durchs offene Fenster hörte er die Stimmen von Berit und Yann. Seine Frau lachte, Yanns Stimme klang dunkel, amüsiert. Gabor hörte genau hin, bis sich etwas in ihm verhärtete und ihm war, als könnte er Yanns Stimme sehen, eine ansteigende und immer wieder abbrechende weiße Linie vor schwarzem Hintergrund. Er legte die Postkarte auf den Nachttisch zurück und ging hinunter.
Als Yann sich verabschiedete, schlug Gabor vor, ihn nach Hause zu fahren. Berit und er standen Arm in Arm in der offenen Tür, und er sagte: »Komm, ich fahr dich schnell.«
Sie hatten während des Abends kaum ein Wort miteinander gewechselt, und im Auto breitete sich Verlegenheit aus wie ein unangenehmer Geruch. Auf der Stadtautobahn öffnete Gabor das Fenster, die Luft war wärmer als in ihrer Siedlung am Rande des Waldes, angereichert mit etwas, das Aufregung versprach. Offene Fenster, Musik, Schweigen. In Freiburger Zeiten waren sie manchmal so zu einem der Bergseen gefahren, spontan im Morgengrauen durch klare, beißende Luft. Gabor wechselte von der Autobahn auf eine Allee mit breiten Bürgersteigen. Die Tische vor den Restaurants waren noch alle besetzt, und er hatte den Impuls einzuscheren, um sich in einer Seitenstraße mit Yann in eines der Cafés zu setzen, aber er beschleunigte und überquerte eine Kreuzung bei Gelb, erleichtert, als hätte er einer Versuchung widerstanden. Während sie in gleichbleibender Geschwindigkeit an der Hochbahn entlangfuhren, sah ihn Yann von der Seite an.
»Was soll ich sagen? Tut mir leid, dass ich den Patienten mit Prosopagnosie übersehen habe.«
»Ist mir auch schon passiert«, antwortete Gabor, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Danach sagte keiner mehr etwas.
Yann bewohnte in Friedrichshain eine Zweizimmerwohnung im Seitenflügel eines Altbaus, die vom Makler als Loft angepriesen worden war, weil der Eigentümer die Wand zwischen Küche und Wohnzimmer eingerissen und im Hof einen Satz Balkone hatte an die Wand schrauben lassen. Die Miete war horrend, aber das störte Yann nicht. Ein Rennrad hing im Flur, im Wohnzimmer lehnten Surfbretter. Ein Schreibtisch, Plattensammlung, im Schlafzimmer eine Matratze auf den Dielen, statt eines Schranks die gleiche Kleiderstange auf Rollen, an der schon in Yanns Studentenzimmer die Hemden eingestaubt waren. Das einzige Mal, als Gabor mit hinaufgegangen war, hatte Yann ihm ein Bier in die Hand gedrückt und ihn auf den Balkon geführt. In der Enge des Hofes senkte man unwillkürlich die Stimme, die Wohnungen gegenüber waren einsichtig wie Bühnenbilder. Er erinnerte sich: eine Frau, die auf hohen Schuhen durch einen großen, nur mit einem Ledersofa ausgestatteten Raum schritt, langsam, als memorierte sie einen Text. Der Schirm einer Pendellampe wölbte sich tief über einem Holztisch, und in einem mit Regalen zugestellten Arbeitszimmerschlauch saß ein Mann am Computer, Kopfhörer über den Ohren. Danach hatten sie in einer Kneipe um die Ecke Billard gespielt. Yann hatte natürlich gewonnen.
Gabor fuhr langsam, vorgebeugt. Die Bürgersteige waren zu schmal, immer lief jemand auf der Straße, sorglos, überzeugt davon, im Recht zu sein. Menschentrauben vor den Bars, Autos in der zweiten Reihe zwangen ihn, anzuhalten. Im Schritttempo kroch er hinter einem Fahrradfahrer her, der in der Straßenmitte seelenruhig vor sich hin gondelte.
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