Gesponnen aus Gefuehlen
zusammen. Ihre Flucht war umsonst gewesen. Er hatte sie gefunden. Sie wusste, dass sie auf ihn einschlagen sollte, dass sie versuchen sollte fortzulaufen, doch alle Kraft hatte sie verlassen. Das Wesen, das sie kaum berührt hatte, hatte allen Widerstand aus ihr herausgesogen. Was hatte diese Kreaturen erschaffen können?
Nathan sagte kein Wort, während er sie am Handgelenk packte und zurück zur Hütte zog. Weit war sie nicht gekommen, stellte sie fest.
Nathan verriegelte gewissenhaft die Tür und schob Lucy ins Schlafzimmer.
Entkräftet ließ sie sich auf das Bett fallen. Sie ignorierte, dass Nathan eine Decke über sie zog und in dem Ofen ein Feuer entfachte. Sie ignorierte den heißen Tee und die Sandwiches, die er brachte.
»Du solltest dich umziehen«, sagte er, als sie sich nicht regte. »Du bist völlig durchnässt. Ich habe ein paar Hemden und T-Shirts dabei.«
Lucy starrte nur weiter gegen die Wand, unfähig sich zu rühren.
Die Bettfedern knarrten, als Nathan sich neben sie setzte.
»Lucy, ich weiß, dass du mir nicht traust. Und vielleicht ist das das Klügste. Ich weiß nicht, was du gehört hast. Ich habe mit Colin telefoniert. Er hat mir eine SMS geschrieben. Ich wollte ihm nur sagen, dass es dir gut geht.«
Er wartete auf eine Reaktion von ihr. Als diese ausblieb, atmete er tief ein. »Ich habe etwas für dich, das ich dir längst hätte geben sollen. Bisher war nicht der rechte Zeitpunkt dafür. Der hier ist es auch nicht. Es ist ein Brief und dein Medaillon. Den Brief habe ich meinem Großvater gestohlen. Vikar McLean hatte ihn in seinem Besitz. Das Medaillon habe ich an mich genommen, damit es nicht in falsche Hände gerät. Ich lege es her und lasse dich allein.«
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich bin da, wenn du mich brauchst.«
Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, drehte Lucy sich um und griff nach dem Gegenstand, der auf dem Kissen lag. Fest umschloss ihre Hand das kalte Metall und tröstend floss ein vertrautes Gefühl durch ihre Adern. Er hatte es die ganze Zeit gehabt. Sie hatte es gewusst.
Sie öffnete das Schmuckstück und schaute in die Augen ihrer Eltern. Warum hatten sie sie hiervor nicht beschützt? Warum hatten sie sie allein gelassen? Die Bücher waren ihrer Mutter wichtiger gewesen als das eigene Kind.
Erst jetzt sah Lucy den Brief. Der Umschlag war vergilbt und zerknittert. Mechanisch griff sie danach und zog das Papier heraus, das darin verborgen war. Sie entfaltete es und begann zu lesen.
Geliebte Lucy,
wir haben nicht viel Zeit. Batiste de Tremaine hat uns gefunden. Wir haben so sehr gehofft, dass es uns vergönnt sein würde, länger mit Dir zusammen zu sein. Aber das Schicksal hat es nicht gut mit uns gemeint. Wir haben schon vor Deiner Geburt alles Nötige mit Vikar Ralph besprochen. Du kannst ihm vertrauen und wir hoffen, dass er Dich eines Tages in das Geheimnis Deiner Herkunft einweihen wird.
Du bist etwas ganz Besonderes und das ist Fluch und Segen zugleich. Wie allen Frauen unserer Familie ist es Deine Bestimmung, den Männern des Bundes die Stirn zu bieten. Sie stehlen den Menschen das Wissen. Das darfst Du nicht hinnehmen …
Vikar Ralph wird Dich verstecken. Selbst wir wissen nicht, wohin er Dich bringen wird. Wir denken, dass es so das Beste ist. Sie werden nie vermuten, dass wir einen Mann der Kirche um Hilfe bitten. Wenn wir es schaffen, den Perfecti zu entkommen, werden wir Dich zurückholen. Keine Sekunde länger als unbedingt nötig werden wir Dich allein lassen. Doch wenn wir es nicht schaffen, dann soll dieser Brief unser letzter Gruß an Dich sein. Wir lieben Dich so sehr. Und Du wirst jede Sekunde, die wir nicht bei Dir sein können, in unseren Herzen sein. Sollte es uns nicht vergönnt sein, zurückzukommen und Dich zu unterweisen, dann vertraue auf die Bücher und das Medaillon. Die Bücher werden Dich finden und Dich leiten. Vertraue ihnen, so wie sie Dir vertrauen. Sie brauchen Dich. Nur Du kannst sie vor der Habgier des Bundes schützen. Die Männer sind vom Wege abgekommen. Was sie tun, ist falsch.
Denke immer daran: Das Wort, das Wissen und die Weisheit der Bücher dürfen nicht länger verborgen werden. An Worten sollen die Seelen der Menschen emporwachsen, Worte sollen die Waffen der Zukunft sein.
Wir küssen und umarmen Dich und hoffen, dass die Zukunft, die vor Dir liegt, friedlicher sein wird als unsere Gegenwart.
Möge Gott Dich schützen und leiten.
Deine Dich liebenden
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