Gesponnen aus Gefuehlen
Wurzelstränge über ihr. Hier fand sie so schnell niemand, stellte sie fest und sah nach oben. Allerdings würde sie Schwierigkeiten haben, ohne Hilfe herauszukommen. Vorerst war ihr das egal. Sie rollte sich zusammen. Am liebsten hätte sie geweint, aber es wollten sich keine Tränen einstellen.
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Nathan fragte sich, wie er Lucy finden sollte. Das hätte nicht passieren dürfen. Sein ganzer Plan war durch Lucys Flucht gefährdet. Er hätte sie niemals aus der Hütte hinauslassen dürfen. Er hatte seit mindestens einer halben Stunde kein Geräusch mehr gehört, wenn man von seinen eigenen Schritten absah. Der Wald schien in eine Art Starre verfallen zu sein. Nathan fluchte vor sich hin. War das vorhin ein Schrei gewesen? Womöglich war Lucy etwas zugestoßen. Nicht mehr lange und es wurde dunkel. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sie fand, tendierte dann gegen null. Konnte Sie eine Nacht draußen überleben? Wohl kaum, beantwortete er die Frage selbst. Nathan dachte zurück an den Abend, als er sie in London eiskalt in sein Bett getragen hatte. Seitdem war alles aus den Fugen geraten.
»Verdammt«, murmelte er und schüttelte die Erinnerung ab. Im Moment gab es Wichtigeres zu tun. Er musste Lucy finden. Minuten später stieß er auf die Felswand. Der glitschige Pfad erschien nicht vertrauenerweckend. Er blickte sich um, ob in dem Gestein eine Höhle oder ein Unterschlupf zu sehen war. Wahrscheinlich hatte Lucy sich versteckt. Entdecken konnte er nichts. Sollte sie dort hinuntergegangen sein?
Es war das Klügste, wenn er zurückging und eine Taschenlampe aus dem Auto holte. Er hatte die Batterien schonen wollen, doch er konnte unmöglich mit einer Kerze durch den Wald laufen.
Nathan machte kehrt. Während er durch den Wald zurücklief, versuchte er, sich den Weg einzuprägen. Als er auf dem Waldweg angekommen war, der zum Haus führte, zückte er sein Handy und tippte eine SMS.
Kurze Zeit Später machte er sich wieder auf den Weg. Er hoffte, Lucy zu finden, ansonsten hatte er ein echtes Problem.
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Lucys Dämmerzustand wurde jäh unterbrochen. Verzweifelt versuchte sie, zu sich zu kommen. Etwas Bedrohliches näherte sich ihr. Sie spürte es genau. Sämtliche Härchen auf ihrer Hautoberfläche richteten sich auf vor Furcht. Kalter Schweiß brach in ihrem Nacken aus. Gleichzeitig wurde sie von einer unnatürlichen Starre gepackt. Sie versuchte sich zu bewegen, doch es gelang ihr nicht. Die Angst hatte sie fest im Griff. Sie blinzelte. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Die Gestalten, die ihr bereits zweimal erschienen waren, hatten den Weg in diese unzugängliche Höhle gefunden. Nur waren es diesmal ungleich mehr und sie wusste, was sie waren. Buchgeister hatte Nathan sie genannt. Der Name passte perfekt. Weshalb ließen sie sie nicht in Ruhe?
Die papiernen Schatten verschwammen ineinander. Das konnte keine Wirklichkeit sein, sagte sie sich. Sie musste versuchen aufzuwachen. Aber sie konnte sich nicht bewegen und die vergilbten Gestalten rückten auf sie zu. Was wollten sie von ihr? In einem Winkel ihres Kopfes, der noch zu klaren Gedanken fähig war, fragte Lucy sich, an wen diese Kreaturen sie erinnerten. Erst als eine ihre durchscheinenden krallenartigen Finger nach ihr ausstreckte, fiel es ihr ein. Wären sie nicht so offensichtlich aus Papier, könnten sie Brüder der Nazgûl aus Tolkiens Herr der Ringe sein. Die Ringgeister in ihren zerlumpten Umhängen und auf diesen riesengroßen Pferden waren ihr in dem Film jedoch längst nicht so bedrohlich erschienen wie diese grauenhaften Gespenster direkt vor ihren Augen. Die Erkenntnis sprang Lucy an und sie schrie sich ihre Angst aus dem Leib. Die Gestalt schreckte zurück und Lucy nutzte die Sekunde, um die Starre von sich zu schütteln und aufzuspringen. Das Grauen verlieh ihr zusätzliche Kraft. Sie sprang in die Höhe, griff nach einer der Wurzeln und zog sich hoch. Panisch kroch sie über das Wurzelwerk und rechnete fest damit, dass die Hand nach ihr greifen und sie zurückziehen würde. Stattdessen blendete sie helles Licht. Lucy prallte zurück, um gleich darauf erleichtert aufzuatmen. Egal wer es war, irgendjemand hatte sie gefunden und würde sie retten. Retten vor diesen Geistern aus Papier und vor Nathan. Ihr Retter zog sie an seine Brust und hielt sie fest. Den wohlbekannten Duft, der ihr in die Nase stieg, nahm sie nur verzögert wahr. Als sie begriff, wer sie da im Arm hielt, brach sie verzweifelt
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