Gesponnen aus Gefuehlen
Arme, die sie festhielten und wärmten. Etwas in ihr sagte ihr, dass es gut so war. Dass diese Arme sie halten würden. Sie konnte und wollte sich ihnen nicht entziehen. Warme Lichter verschmolzen miteinander und hüllten sie ein. Endlich konnte sie sich fallen lassen.
»Er wird dir nichts anhaben. Er gehört zu dir. Du darfst ihn nicht gehen lassen. Hör auf dein Herz«, flüsterte die Stimme ihrer Mutter überdeutlich in ihr Ohr. »Du kannst ihm vertrauen, meine Kleine. Wir lieben dich, vergiss das nie.«
Dann war da nichts mehr. Nur noch Stille und ein warmes Glühen. Lucys Kopf schmiegte sich an eine feste Brust und das erste Mal seit Tagen fiel sie in einen traumlosen Schlaf. Nathan würde auf sie aufpassen, wusste sie mit einem Mal mit erstaunlicher Klarheit. Er würde sie nicht allein lassen.
Das Unheil, welches schlechte Bücher anrichten,
kann nur durch die guten wieder ausgeglichen werden.
Germaine de Staël
10. Kapitel
Nathan erwachte von einem Geräusch. Es dauerte einen Moment, in dem er beinahe wieder eingeschlafen wäre, bevor er begriff, was für ein Laut ihn geweckt hatte.
Das Geräusch zersplitternden Glases. Dafür gab es nur eine Erklärung. Mit klopfendem Herz lauschte er in die Stille und hoffte, dass er sich geirrt hatte. Draußen rührte sich nichts und trotzdem spürte er die drohende Gefahr.
Jemand war im Haus, und dass dieser Jemand nicht an die Tür geklopft hatte, konnte nur eins bedeuten. Nathan unterdrückte den Fluch, der ihm über die Lippen zu kommen drohte. Lucy lag warm und weich in seinem Arm und atmete gleichmäßig.
Es hatte lange gedauert, bis sie sich beruhigt hatte und eingeschlafen war. Er hätte ihr das Medaillon und den Brief viel früher geben müssen. Dann wäre sie nicht weggelaufen. Dann hätte er sie nicht so völlig aufgelöst im Wald gefunden. Er war aus ihrem Gestammel nicht schlau geworden, aber er hatte die Angst in ihren Augen gesehen. Etwas, das sie gesehen hatte, hatte sie in Todesangst versetzt. Und er ahnte, was das gewesen war.
Sein Großvater hatte ihm als Junge immer Angst gemacht mit den Geschichten verlorener Bücher, deren Seelen im Nirgendwo herumirrten und keine Heimstatt fanden. Der Zorn der Buchgeister wurde mit den Jahren übermächtig und richtete sich gegen die, die dafür verantwortlich waren. Gegen die Kinder des Bundes und ihre Nachfahren. Sie hatten ihn heimgesucht. In manchen Nächten hatte er sich die Seele aus dem Leib geschrien vor Angst. Nie war jemand gekommen und hatte sie vertrieben. Erst als Teenager hatte sein Großvater ihm gezeigt, wie er sich abschirmen konnte. Was er tun musste, damit sie ihn nicht fanden. Nun hatten sie in Lucy ein neues Opfer. Er musste ihr zeigen, wie sie sich vor ihnen schützen konnte.
Wieder hörte er das Geräusch knirschender Scherben. Ganz leise, aber deutlich vernehmbar in der Stille. Er musste Lucy fortbringen.
»Lucy«, flüsterte er tonlos in ihr Ohr. »Lucy, wach auf.« Er spürte, wie sie sich zu regen begann. Bevor sie etwas sagen konnte, hielt er ihr den Mund zu. Reflexartig versuchte sie, sich zu wehren und sich aus seinen Armen zu winden.
»Pst. Es ist jemand im Haus«, raunte er so eindringlich, dass sie erstarrte. Er konnte in der Dunkelheit ihre Augen nicht sehen, aber er fühlte ihren Blick angstvoll zur Tür schwenken. Und dann hörten sie es beide. Schwere Schritte knirschten über das Glas und hielten wieder inne. Offenbar hatte, wer immer es auch war, eine Scheibe eingeschlagen, aber einen Moment gewartet, bevor er endgültig ins Haus eingedrungen war.
Nathan tastete nach seiner Hose und seinen Schuhen. Rasch zog er sich an und flüsterte Lucy zu, das Gleiche zu tun. Nicht ganz so leise erhob sie sich aus dem knarrenden Bett und suchte nach ihren Schuhen.
Nathan griff nach der Waffe, die er unter der Matratze versteckt hatte. Er hatte gehofft, diese nicht benutzen zu müssen. Wenn er Lucy nur so schützen konnte, dann musste es jedoch sein. Jetzt spürte er sie an seiner Seite. Wie selbstverständlich griff sie nach seiner Hand. Fest umschloss er sie. Dass Lucy sich trotz allem, was geschehen war, entschlossen hatte, ihm ihr Vertrauen zu schenken, wunderte ihn. Doch darüber konnte er sich später Gedanken machen. Behutsam einen Schritt vor den anderen setzend schob er sie hinter die offene Zimmertür. Wenn es nur nicht so finster wäre, dachte er. Im selben Moment hörte er das Kratzen eines Feuerzeuges und im Flur flammte Licht auf. Das Flackern drang bis
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