Gesponnen aus Gefuehlen
Eltern
Fassungslos sah Lucy auf das Blatt Papier. Ihre Hände zitterten, während sie versuchte, den Brief festzuhalten. Die Buchstaben flimmerten und tanzten vor ihren Augen und sie spürte, wie ein Schrei sich seinen Weg aus dem Innersten nach draußen bahnen wollte. Sie schluckte mehrmals heftig, um ihn zu unterdrücken. Wie oft hatte sie sich als kleines Mädchen in den Schlaf geweint und sich gefragt, wo ihre Eltern waren. Jetzt hatte sie die Antwort schwarz auf weiß. Das Schlimmste daran war, dass diese Antwort offenbar nie weit von ihr weg gewesen war. Lucy las den Brief ein zweites und ein drittes Mal. Was sie heraushörte, wurde mit jedem Mal furchteinflößender. Angst sprach aus jeder Zeile, aus jedem Wort. Nach dem dritten Mal war Lucy sicher, dass ihre Eltern geahnt hatten, dass es ein Abschiedsbrief war, den sie für ihre Tochter verfassten. Obwohl sie bereits gewusst hatte, dass ihre Eltern tot waren, machte erst dieser Brief den Verlust greifbar. Lucy strich über die Worte, die ihre Mutter vor so langer Zeit geschrieben hatte. Stumme Tränen rannen aus ihren Augen. Lucy hatte in den letzten Tagen oft gedacht, dass sie sich leergeweint hatte. Nun musste sie feststellen, dass immer noch genug Tränen da waren, die sie um ihre Eltern weinen konnte. Verzweiflung breitete sich in ihr aus. Batiste de Tremaine hatte ihre Eltern getötet. Auch sie hätte er getötet oder ihr weit Schlimmeres angetan, wenn nicht … Ja, was, wenn nicht? Wenn Nathan sie nicht gerettet hätte? Warum noch mal genau hatte er das getan? Weshalb war sie davon überzeugt gewesen, dass alles nur einem Plan entsprang, den er und Batiste geschmiedet hatten, um sie in ihre Fänge zu bekommen? Wie passte es in diesen Plan, dass Nathan ihr den Abschiedsbrief ihrer Eltern und ihr Medaillon zurückgab? Trotz aller Anstrengung gelang es Lucy nicht, ihre Gedanken in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Sie wirbelten durcheinander, als würde ein Sturm permanent neu Atem holen und durch ihren Kopf pusten. Sie sah sich als kleines Mädchen an der Hand von Madame Moulin. Sie sah Vikar Ralph, der sie mit dieser seltsamen Miene musterte, die er in ihrer Gegenwart immer aufgesetzt hatte. Lucy hatte gedacht, dass er sie nicht mochte und sich von ihm ferngehalten. Sie klappte das Medaillon auf. Im Gegensatz zu vorher stieg sanftes Licht aus ihm hervor und verband sich mit dem Licht ihres Mals. Erschöpft lehnte sie sich an die Wand hinter dem Bett und zog die Decke fest um sich. Dann versanken ihre Blicke in dem Bild, das sich ihr bot. In dem Strahlen sah sie ihre Mutter und ihren Vater die Stufen der Kirche hinaufsteigen. Sie legten ein Bündel in die Arme des Vikars, der viel jünger war, als Lucy ihn in Erinnerung hatte. Ihre Mutter weinte und das starre Gesicht ihres Vaters sprach Bände. Sanfte Hände streichelten sie ein letztes Mal und ihre Mutter steckte den Brief und das Medaillon zwischen die Falten der Decke, in die sie eingewickelt war. In dem Brief stand, dass ihre Eltern alles mit Vikar Ralph abgesprochen hatten. Er sollte ihr von ihrer Bestimmung berichten, wenn die Zeit reif war. Er hatte es nie getan. Warum? Sie würde es nie erfahren.
Lucy versank in einen Zustand zwischen Dämmern, Schlafen und Wachen. Wieder und wieder tauchten ihre Mutter und ihr Vater auf. Sie versuchten, ihr etwas zu sagen. In ihrem Traum wurden sie immer kleiner, während ihre Eltern versuchten, ihr etwas zuzurufen. Je mehr sie am Horizont verschwanden, umso leiser wurden ihre Stimmen. Lucy konnte nicht verstehen, was sie sagten, obwohl sie sich nichts mehr wünschte. Sie lief ihnen hinterher und versuchte sie zu erreichen. Aber egal wie schnell sie lief, sie konnte sie nicht einholen. Nebel schob sich zwischen sie. Erst sah sie noch Schemen, dann hörte sie nur die leisen Rufe, die irgendwann verklangen. Die Einsamkeit, die sie durchflutete, war nicht zu ertragen. Sie musste sie zurückholen.
Sie versuchte, den Nebel zu durchdringen, doch der schien sie festzuhalten. Er krallte sich erst in ihre Beine, dann in ihren Oberkörper. Er umschloss sie immer fester und undurchdringlicher. Eine zähe graue Suppe, aus der es kein Entkommen gab, so sehr sie auch strampelte und schrie.
»Schhhh«, flüsterte jemand beruhigend in ihr Ohr. »Schhh. Es ist alles gut. Niemand wird dir etwas tun. Ich verspreche es.«
Lucys Atem beruhigte sich nur schleppend. Die zähflüssige graue Masse zog sich aus ihrem Kopf zurück und das Einzige, was sie fühlte, waren die
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