Gesponnen aus Gefuehlen
Ausschau. Wo war er? Die Vorstellung, dass er verschwunden war, bereitete ihr Unbehagen. Er würde sie doch nicht allein zurücklassen? Er musste irgendwo sein. Andererseits war dies das perfekte Gefängnis. Sie könnte zwar versuchen, dem Weg zu folgen, ob der sie aber zu einem bewohnten Ort brachte, war ungewiss. Bei dieser Kälte würde sie nicht lange durchhalten. Sie überlegte, ob sie ihn rufen sollte, als sie seine Stimme hörte. Das erste Gefühl von Erleichterung verschwand schnell und machte Misstrauen Platz.
Lucy versuchte, kein Geräusch zu verursachen, als sie seiner Stimme folgte. Entweder er führte Selbstgespräche, oder er telefonierte, entschied sie. Eine zweite Stimme war nicht zu vernehmen. Mit wem sprach er? Endlich war sie nah genug, um Nathan zu sehen und zu verstehen, was er sagte. Er drehte ihr den Rücken zu.
»Alles verläuft nach Plan. Mach dir keine Sorgen. Noch ein oder zwei Tage, dann habe ich einen Plan. Ja, es ist genau, wie du vermutet hast.« Er schwieg und lauschte. »Die Zeit musst du mir geben. Ich rufe dich wieder an«, sagte er.
Lucy erstarrte. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie in einem Winkel ihres Herzens gehofft hatte, dass Nathan sie tatsächlich vor seinem Großvater beschützte. Dass er sie fortgebracht hatte, damit dieser sie weder zwang, die Bücher auszulesen, noch damit irgendein Widerling sich an ihr verging. Wieder war alles nur gelogen gewesen. Das ganze Manöver hat nur dazu gedient, sie einzulullen und sich in ihr Vertrauen zu schleichen. Nathan würde sie vor gar nichts beschützen. Ihr letzter Rest Hoffnung verpuffte bei den eben gehörten Worten. Ohne nachzudenken, drehte sie sich um und rannte davon. Das Letzte, was sie hörte, war ein »Mist«, das Nathan in das Telefon brüllte. Dann waren da nur noch seine Schritte, die ihr folgten.
Lucy rannte tiefer in den Wald hinein. Sie konnte an nichts anderes denken als an Flucht. Sie musste weg von Nathan. Egal wohin. Lieber starb sie in der Kälte, als noch eine Minute in seiner Gegenwart zu verbringen, und in seine falschen Augen zu blicken. Sie hatte es gewusst.
*********
Batiste de Tremaine blickte auf den Telefonhörer in seiner Hand. Er musste zugeben, dass er das dem Jungen nicht zugetraut hatte. Er hatte befürchtet, dass Nathan sich in das Mädchen verliebt hatte. Es war verboten, dass die Kinder des Bundes sich zu nahe kamen. Niemand wusste, was geschah, wenn aus solch einer Verbindung Nachwuchs hervorging. Er durfte kein Risiko eingehen.
Diesmal würde nichts schiefgehen. Beaufort würde ihn dafür verantwortlich machen, wenn das Mädchen entwischte. Er hatte ihm schon die Hölle heißgemacht, als er erfahren hatte, dass der Brand in der Bibliothek auf sein Konto ging. Nur Nathan war es zu verdanken, dass alles nach einem geschickt eingefädelten Plan ausgesehen hatte. Batiste verstand Beaufort sogar ein bisschen. Welcher Mann bekam gern beschädigte Ware. Er grinste böse vor sich hin, dann befahl er die Hunde zu sich und verließ das Haus. Als er die Bibliothek unter der Kapelle erreicht hatte, erläuterte er den beiden ihren Auftrag und nannte ihnen ihren Bestimmungsort.
Das war das letzte Mal, dass er sich überlisten ließ.
Bücher sind die Seele
und das Gedächtnis der Welt.
Santiago Garcia- Clairac
9. Kapitel
Lucy rannte. Die schneidende Luft brannte in ihrer Lunge. Zweige peitschten ihr ins Gesicht und hinterließen glühende Streifen auf ihrer Haut. Sie stolperte über Schlingpflanzen, morsche Baumstämme und Mooshügel. Jedes Gewächs dieses Waldes schien nach ihr zu greifen, um sie aufzuhalten. Es war ihr egal. Sie durfte auf keinen Fall stehen bleiben. Trotz des Lärms, den sie selbst verursachte, hörte sie Nathan durch das Unterholz brechen. Wenn ihr nicht etwas einfiel, holte er sie ein. Was er dann mit ihr tun würde, wollte sie sich lieber nicht vorstellen. Was hatte er mit seinem Großvater vereinbart? Außer sich vor Wut fragte Lucy sich, wie es passiert war, dass sie angefangen hatte, ihm wieder zu trauen. Wie brachte er es fertig, so zu lügen? Je tiefer sie in den Wald vordrang, umso undurchdringlicher wurde er. Lucy verlangsamte ihre Schritte, um sich umzusehen. Nathan war lediglich zu hören, jedoch nicht zu sehen. Vielleicht fand sie ein Versteck. Der Weg, den sie sich durch den Wald gebahnt hatte, musste überdeutlich sein. So entkam sie ihm niemals. Er brauchte ihr nur gemächlich zu folgen und zu warten, dass sie an Kraft verlor. Sie
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