Gesprengte Ketten
hinzu.
"Ich bin so schnell es geht bei Ihnen, Frau Ravens", versprach der Arzt. "Versuchen Sie, Ihrer Mutter die Angst zu nehmen. Falls der Schlafanzug Ihrer Mutter oder ihr Nachthemd am Hals zug eknöpft sind, öffnen Sie die Knöpfe. Entfernen Sie alles, was Ihre Mutter beengen könnte."
Die junge Frau kehrte ins Schlafzimmer zurück. Gertrud R avens bekam noch immer schwer Luft und hatte heftige Schmerzen. Mit vor Angst aufgerissenen Augen starrte sie ihre Tochter an.
"Doktor Marquard wird in paar Minuten bei dir sein, Mama", versicherte Laura. Als sie sich auf das Bett setzte, bemerkte sie, dass ihre Mutter tatsächlich ein Nachthemd trug, das am Hals z ugeknöpft war. Rasch öffnete sie die Knöpfe.
Charlotte hockte halb auf dem Frisiertisch. "Du hättest Mama nicht so aufregen dürfen, Laura", klagte sie leise ihre Schwester an, aber dennoch laut genug, dass auch der Vater es verstehen kon nte.
"Wir unterhalten uns später darüber, Charlotte", meinte Laura ärgerlich.
"Deine Schwester hat recht, Laura", mischte sich Günther Ravens ein. "Du denkst nur an dich."
Die junge Frau verzichtete darauf, auf den Vorwurf ihres V aters einzugehen. "Ich warte unten auf Doktor Marquard", sagte sie. "Jemand muss ihm die Tür öffnen."
Laura musste nicht lange auf den Arzt warten. Die Mozart-Straße, an deren Ende er mit seiner Familie wohnte, mündete in die Sibelius-Straße, in der ihr Elternhaus stand. Kaum hatte sein Wagen vor dem Haus gehalten, öffnete sie auch schon die Hau stür.
Julian stieg aus. Nach einem kurzen Gruß folgte er Laura die Treppe hinauf.
"Gut, dass Sie kommen, Herr Doktor", sagte Günther Ravens. "Meine Frau hat starke Schmerzen." Er wandte sich an Charlotte: "Am besten, du gehst zu Bett. Vergiss nicht, du hast morgen Schule."
"Wie du meinst, Papa", antwortete die Sechzehnjährige. "Weckt mich, wenn etwas sein sollte."
Dr. Marquard untersuchte seine neue Patientin. Er ließ sich von ihr schildern, wie die Schmerzen begonnen hatten, fragte, ob sie sich zuvor sehr angestrengt, oder aufgeregt hatte.
"Ich habe mich aufgeregt", antwortete die Kranke keuchend. "Es ist hart, wenn die eigenen Kinder keine Rücksicht kennen. Ich..."
"Bitte, sprechen Sie nur das Nötigste, Frau Ravens." Dr. Marquard nahm ein Nitrospray aus seiner Tasche. "Öffnen Sie bitte den Mund." Er sprühte das Medikament auf Gertruds Zunge. "Ich bin überzeugt, dass es Ihnen in wenigen Minuten besser gehen wird, Frau Ravens." Während er auf die Wirkung des Sprays wartete, zog er eine Spritze auf.
Laura lehnte am Fenster und beobachtete jede seiner Bew egungen. Der Arzt zögerte nicht ein einziges Mal, wusste genau, was er tat. Sie fühlte ein unbegrenztes Vertrauen zu ihm.
"Es geht mir besser", sagte Gertrud Ravens nach einer Weile. "Die Schmerzen lassen nach. Ich kann wieder durchatmen. Und di eser Reifen um meine Brust löst sich auch."
"Was hat meine Frau, Herr Doktor?"
"Sie hatte einen Angina-Pectoris-Anfall", antwortete Dr. Marquard. "Genaueres kann ich erst nach einer gründlichen Untersuchung sagen. Ich möchte Sie bitten, morgen Vormittag in meine Praxis zukommen, Frau Ravens. Ganz wichtig ist es, ein EKG zu machen."
"Angina-Pectoris? Ich hatte noch nie etwas mit dem Herzen. Ich leide seit Jahren an Arthrose."
"So etwas kann sehr schnell kommen, Frau Ravens", sagte Julian Marquard. "Auf jeden Fall muss man der Sache nachgehen."
"Laura wird dich morgen in die Praxis von Doktor Marquard bringen, Trudchen." Günther Ravens tätschelte die Wange seiner Frau.
Dr. Marquard setzte sich an den Frisiertisch und füllte die notwendigen Formulare aus, danach verabschiedete er sich.
Laura brachte ihn zu seinem Wagen. Sie entschuldigte sich noc hmals für die Störung.
"Das ist schon in Ordnung, Frau Ravens." Er drückte ihre Hand. "Versuchen Sie zu schlafen." Er machte sich mehr Sorgen um Laura, als um ihre Mutter. Nachdem er jetzt ihre Eltern kennen gelernt hatte, vervollständigte sich das Bild, das er sich über ihr Leben machte. Es wurde allerhöchste Zeit, dass Laura lernte, nicht für alles, was in ihrer Familie geschah, verantwor tlich zu sein.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Laura die Treppe zum Schlafzimmer ihrer Eltern hinauf. Auf Zehenspitzen trat sie ein. Ihre Mutter war eingeschlafen.
"Du solltest auch schlafen gehen", sagte Günther Ravens. Er küsste seine Frau die Wange. "Ich bin froh, dass der Arzt so schnell hier gewesen ist."
"Gute Nacht, Papa." Laura schloss leise die
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