Gesprengte Ketten
Symptome, aber nicht den Grund für Ihre Müdigkeit bekäm pfen." Er schlug Lauras Krankenakte auf und überflog noch einmal den Bericht seines Kollegen, den er am Vortag erhalten hatte.
Laura versuchte, im Gesicht des Arztes zu lesen. "Was fehlt mir, Doktor Marquard?", fragte sie unsicher. "Was es auch ist, Sie kö nnen es mir sagen. Alles ist besser, als kein Ergebnis."
"So würde ich das nicht sehen, Frau Ravens", antwortete Jul ian. "Organisch fehlt Ihnen tatsächlich nichts und darüber sollten Sie froh sein. Noch ist Zeit, etwas..."
"Also bin ich eine Hypochonderin", fiel ihm die junge Frau mutlos ins Wort.
Ihre Verzweiflung berührte Julian Marquard zutiefst. "Nein, Sie sind keine Hypochonderin", widersprach er. "Sie hätten mich ausreden lassen sollen." Er beugte sich ihr leicht zu. "Sie leiden an Vegetativer Dystonie."
"Vegetativer Dystonie", wiederholte Laura. "Was ist das für e ine Krankheit? Vegetativ klingt nach einem Nervenleiden." Sie lachte bitter auf. "Das würde die Meinung meiner Familie bestätigen."
"Seien Sie beruhigt, Frau Ravens, es handelt sich um kein Ne rvenleiden, sondern um eine oft durch seelische Ursachen verursachte Störung des vegetativen Nervensystems. Diese Störung kann so schlimm werden, dass sie zu ernsthaften Erkrankungen der Organe führt. In leichten Fällen handelt es sich bei den Symptomen nur um Blutdruckschwankungen, starkes Schwitzen, leichtes Erröten, Zittern, Unruhe, Nervosität, Hitzewallungen und so weiter. Wenn wie in Ihrem Fall die Störungen bereits zu Schmerzen führen, darf diese Krankheit nicht mehr auf die leichte Schulter genommen werden."
"Und ich habe manchmal Schmerzen." Die junge Frau war e rleichtert, dass es endlich für ihre Beschwerden eine Ursache gab. "Und was kann man dagegen tun?"
"Vor allen Dingen müssen Sie sich mehr Ruhe gönnen. Je he ktischer Ihr Leben verläuft, umso stärker werden Ihre Beschwerden und wie gesagt, das kann bis zu ernsthaften Organschäden führen. Ihr EKG zeigt bereits leichte Unregelmäßigkeiten."
Laura lehnte sich zurück. Noch immer fühlte sie sich erleic htert, dass sie endlich eine Diagnose hatte. Sie gab sich einen Ruck und sprach von dem Druck, unter dem sie stand. "So komisch es klingen mag, es gibt Tage an denen es mir vorkommt, als würde alle Last der Welt auf meinen Schultern ruhen. Meine Eltern sind der Meinung, ich müsste mich rund um die Uhr um sie kümmern und dennoch auch noch meiner Arbeit nachkommen. Meine Schwester denkt nicht daran, im Haushalt zu helfen und wird von meinen Eltern darin auch noch unterstützt, weil ich ja ohnehin den ganzen Tag daheim bin. Mein Freund drängt mich, ihm mehr Zeit zu widmen. Was ich verstehen kann, denn wir lieben uns. Es ist wie ein Teufelskreis."
Dr. Julian Marquard hatte sich Lauras Leben so ähnlich vorg estellt. Sie gehörte zu den Frauen, denen von Kind auf eingehämmert worden war, dass sie ihr Leben der Familie zu widmen hatten. "Wenn Sie gesund werden wollen, müssen Sie sich aus diesem Teufelskreis befreien, Frau Ravens. Ich bin überzeugt, dass Ihre Eltern nicht einmal im Entferntesten ahnen, was sie Ihnen mit ihrem Verhalten antun. Sie müssen lernen, auch einmal an sich selbst zu denken. Ich verlange nicht von Ihnen, dass Sie Ihren Eltern nicht mehr helfen und sich von ihnen abwenden, dennoch kann es nicht so weitergehen." Er riss ein Blatt von seinem Rezeptblock ab und steckte es in den Drucker seines Computers.
"Um meine Mutter mache ich mir auch große Sorgen", fuhr Laura fort. "Durch ihre Arthrose hat sie starke Schmerzen, weigert sich jedoch einen Arzt aufzusuchen. Sie ist schon seit Monaten nicht mehr beim Arzt gewesen. Ich bin überzeugt, dass ihr die freiverkäuflichen Schmerztabletten, die sie ständig schluckt, mehr schaden als nützen." Sie nahm das Rezept entgegen, das er ihr reic hte.
"Ich bin nicht dafür, den Teufel mit dem Belzebub auszutre iben, deswegen habe ich Ihnen einige Medikamente verschrieben, die auch in der Homöopathie Anwendung finden. Sie werden Ihr vegetatives Nervensystem stützen und Ihnen helfen, leichter durch das Leben zu gehen."
"Danke, Doktor Marquard." Laura steckte das Rezept in ihre Handtasche. "Wäre es möglich, dass Sie bei Gelegenheit meine Mutter aufsuchen und Sie einmal untersuchen?"
"Nein, das geht leider nicht, Frau Ravens", antwortete der Arzt. "Ich kann Ihre Mutter nicht gegen ihren Willen untersuchen. Falls jedoch ein Notfall vorliegt und ihre Mutter rasch einen Arzt braucht, können Sie
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