Gesprengte Ketten
doch dann schob sie den Gedanken daran beiseite. Sie hatte einen Vater und eine Schwester, die auch der Mutter helfen konnten. "Ich freue mich auf den Sonntag", sagte sie und sah ihn mit strahlenden Augen an.
Jannic Eckstein stand auf, trat zu ihr und küsste sie ungeachtet der anderen Leute.
* * *
Gertrud Ravens lag schlaflos in ihrem Bett. Es war weit nach Mitternacht. Durch das offene Fenster sah sie den nachtdunklen Himmel und die Sterne. Es war ein wunderschönes Bild, doch sie konnte diese Schönheit nicht in sich aufnehmen. Seit Laura ihnen am Nachmittag gesagt hatte, dass sie den ganzen Sonntag nicht zu Hause sein würde, konnte sie an nichts anderes mehr denken, als daran, wie wenig sich ihre älteste Tochter für sie interessierte. Laura schien es völlig egal sein, dass sie auf ihre Hilfe angewiesen war. Sie bekümmerten weder ihre Schmerzen, noch ihre Hilflosigkeit. Was war nur in letzter Zeit mit ihr los? So nett Jannic Eckstein auch sein mochte, er hatte keinen besonders guten Einfluss auf Laura. In letzter Zeit entzog sie sich immer öfter ihren Pflichten.
"Charlotte ist auch noch da", hatte Laura zu ihr gesagt. Als wenn man von Charlotte verlangen konnte, den ganzen Sonntag daheimzubleiben. Charlotte besuchte das Gymnasium und wenn sie nach Hause kam, hatte sie meistens noch zu lernen. Ihr blieb nicht viel Zeit für ihre Freunde. Warum wollte Laura das nicht einsehen? Sie dachte nur an sich selbst.
Unruhig drehte sich die Frau auf die andere Seite. Sie hatte das Gefühl, als würde sich um ihre Brust ein enges Band spannen, das nach und nach weiter zugezogen wurde. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Von der Mitte der Brust aus empfand sie einen dumpfen Schmerz, der bis zum Hals und in den Arm ausstrahlte.
"Günther! Günther!" Eine Hand auf ihre Brust gepresst, stieß Gertrud Ravens mit der anderen ihren schlafenden Mann an. "Günther!"
Günther Ravens erwachte aus tiefem Schlaf. "Was ist denn, Gertrud", fragte er ungeduldig, weil er annahm, dass ihn seine Frau nur wegen einem Glas Wasser geweckt hatte, wie es schon oft vorgekommen war. Er schaltete das Licht ein. "Gertrud!", stieß erschrocken hervor, als er das totenblasse, mit Schweiß bedeckte Gesicht seiner Frau sah. "Was hast du denn?"
"Schmerzen", keuchte sie. "Ich kann kaum atmen."
Günther Ravens war mit einem Satz aus dem Bett. Barfuss lief er zur anderen Seite des Bettes, richtete seine Frau auf und stopfte Kissen hinter ihren Rücken. "Ich wecke Laura!" Mit wenigen Schritten war er im Korridor.
Laura erwachte von einem heftigen Schütteln an ihre Schulter. Sie blinzelte ins Licht. "Was ist denn, Papa?", fragte sie erschro cken, als ihr Blick auf ihren Vater fiel.
"Deiner Mutter geht es sehr schlecht. Sie hat Schmerzen und bekommt kaum Luft."
Laura stand eilig auf und hastete gefolgt von ihrem Vater ins Elternschlafzimmer. Sie erschrak zutiefst, als sie ihre Mutter sah, die keuchend und mit vor Schmerzen verzerrtem Gesicht im Bett saß. "Was ist passiert?"
"Diese Schmerzen, sie haben ganz plötzlich begonnen", keuchte Gertrud Ravens. "Was kann das nur sein? Die Schmerzen strahlen bis in den Arm aus."
Charlotte erschien im Schlafanzug in der offenen Tür. "Was ist mit Mama?", wollte sie wissen und rieb sich die Augen.
"Sie hat Schmerzen", sagte Günther Ravens. "Wo sind in die Tabletten, die du gegen Schmerzen nimmst, Gertrud?"
"Mama darf die Tabletten jetzt nicht nehmen", bestimmte Laura. "Ich werde Doktor Marquard anrufen. Er soll kommen." Erst am Vormittag hatte ihr Dr. Marquard gesagt, dass sie ihn auch in der Nacht rufen durfte.
"Kein Arzt", verlangte die Kranke.
"Trudchen, bitte sei vernünftig." Günther Ravens setzte sich zu seiner Frau auf das Bett. "Das sieht mir nach etwas Ernstem aus. Wir können dir nicht helfen, weil wir nicht wissen, was dir fehlt." Er wandte sich Laura zu. "Ruf den Arzt an."
Die junge Frau eilte in ihr Zimmer zurück. Ihr Handy lag auf dem Nachtisch. Hastig wählte sie die Nummer des Arztes. Wä hrend sie darauf wartete, dass Dr. Marquard den Hörer abnahm, wippte sie unruhig mit den Zehenspitzen. Sie dachte an das Streitgespräch, das sie am Abend mit ihren Eltern gehabt hatte. Ob die Schmerzen ihrer Mutter damit zusammen hingen?
"Marquard!", meldete sich Julian.
Laura nannte ihren Namen. "Bitte entschuldigen Sie die Störung, Doktor Marquard. Meiner Mutter geht es sehr schlecht." Sie schilderte ihm die Symptome. "Gestern Abend hat sich meine Mutter ziemlich aufgeregt", fügte sie
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