Geständnis unterm Mistelzweig
oft umziehen? War es so schwer, mit dir auszukommen?”
“Das lag nicht an mir, es waren einfach widrige Umstände. Pflegeeltern wurden krank oder zogen fort. Eine Frau wollte nur kleinere Kinder, und es war ihr nicht recht, als ich anfing, mich für Jungen zu interessieren.”
Stumm verfluchte Egan die Frau, die Chloe in einem so wichtigen Stadium ihrer Entwicklung verstoßen hatte. Aber er zeigte seinen Zorn nicht. Chloe würde glauben, er bemitleide sie.
Stattdessen ergriff er ihre Hand. “Meine Eltern haben versucht, Pflegeeltern zu werden. Sie wünschten sich eine Tochter. Aber die Jugendbehörde meinte damals, sie hätten bereits zu viele Söhne.” Egan lächelte Chloe voller Wärme an. “Stell dir nur vor, du hättest meine Schwester werden können.”
Der Gedanke gefiel Chloe gar nicht. Sie erwiderte Egans Lächeln, um ihm zu zeigen, dass es sie nicht störte, wenn er an ihre Vergangenheit rührte. Dann öffnete sie die Wagentür. Das Thema war damit beendet.
Egan eilte zu ihr und nahm sie an die Hand. Chloe spürte, dass er ihr ein Gefühl der Sicherheit geben wollte. Bestimmt wusste er, dass sie nicht hier sein wollte. Allerdings kannte er die Gründe dafür wohl nicht. Die Wahrheit war, dass sie nicht in eine Situation geraten wollte, in der sie erleben musste, wie wenig sie von einem normalen Familienleben wusste. Alle ihre Kenntnisse stammten nur aus Büchern und aus Beobachtungen von außen. Zu viele Familien, mit denen sie beruflich zu tun gehabt hatte, waren völlig anders als Egans Familie.
“Pass auf die Hunde auf”, warnte Egan sie, als sie sich der Haustür näherten. “Sie werfen dich um, wenn du es zulässt.”
Die Warnung kam gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Moment wurde die Haustür geöffnet, und drei Schäferhunde und ein Collie kamen herausgerannt und stürzten sich auf Egan. Eben stand er noch und wollte Chloe beschützen. Nun kniete er im Schnee, und vier sabbernde Hunde sprangen an ihm hoch.
“Egan ist im Moment offenbar nicht in der Lage, uns einander vorzustellen”, sagte eine zierliche Frau mit blaßblondem Haar und grünen Augen, die Egans glichen. Sie kam von der Veranda und hielt Chloe die Hand entgegen. “Ich bin Dottie O’Brien.”
Chloe streifte den Handschuh ab und schüttelte Dotties Hand. Die Frau hatte einen erstaunlich festen Griff.
“Und Sie sind Chloe”, fuhr Dottie fort, bevor Chloe etwas erwidern konnte. “Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Sie hier sind. Heute wird kein weiteres weib- liches Wesen im Haus sein, nur Sie und ich, und das ist eines mehr als üblich. Glauben Sie, dass Sie den Druck ertragen können?”
Chloe lachte. Ihre innere Anspannung ließ nach. “Wir werden jedenfalls nicht in der Minderzahl sein, nicht wahr?”
“Oh, Sie wissen es nicht? Egan hat es Ihnen nicht erzählt.”
“Was denn?”
“Er hat auch alle seine Brüder eingeladen. Alle sind gekommen, und noch keiner von ihnen ist verheiratet, diese Lümmel.”
Lümmel waren sie keineswegs. Sie und Dick, ihr Vater, waren lebhafte, gut aussehende Männer, die ausgesprochen freundlich zu Chloe und Dottie waren.
Chloe hatte schon früher alle Brüder Egans kennen gelernt, bis auf Rick, der nicht im Familienunternehmen arbeitete. Vor Monaten waren sie durch das Pflegeheim gezogen, um sich ein Bild von den erforderlichen Reparaturen zu machen. Seither hatte sie sie immer wieder gesehen. Sie hatten dem Heim einen gewaltigen Preisnachlass dafür gewährt, dass sie die Arbeiten zwischen anderen Aufträgen erledigen durften. So kamen und gingen sie zu ungewöhnlichen Zeiten. Jeder hatte sein eigenes Spezialgebiet. Chloe hatte es nicht versäumt, alle ihre Vorzüge wahrzunehmen, und auch ihre grenzenlose Energie.
Schon nach einer Stunde an diesem Nachmittag war Chloe erschöpft. Nach zwei Stunden fuhr Dottie mit ihr in die Stadt, damit sie sich erholen konnte.
“Ist Ihnen nun klar, was ich in all diesen Jahren durchgemacht habe?” fragte Dottie ohne eine Spur von Selbstmitleid.
“Sie sind sehr … temperamentvoll.”
“Es ist nur gut, dass wir weggefahren sind, bevor sich alle um den Weihnachtsbaum kümmern. Sie werden sich darum streiten, welcher Baum gefällt werden soll. Sie streiten sich sogar, wenn sie alle denselben ausgesucht haben. Dann gibt es Streit darüber, wer ihn fällen darf, auch wenn im Grunde genommen keiner Lust hat, das zu tun.”
Dottie hielt auf einem Parkplatz vor einer Reihe fröhlich geschmückter Läden.
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