Geständnis
Interview vor der Hinrichtung mit ihnen zu
fuhren.
Da Reeva von Wallis, ihren beiden Kindern und Bruder Ronnie
begleitet wurde, waren sie zu fünft, was bei einer Dreistundenfahrt
recht unbequem werden konnte. Daher hatte Reeva ihren Pfarrer
gebeten, ihr einen der Vans der Kirche zu leihen, und außerdem
vorgeschlagen, dass er sie führ. Bruder Ronnie war müde und
emotional erschöpft, konnte aber nicht mit Reeva diskutieren, nicht
in diesem Moment, nicht „am wichtigsten Tag ihres Lebens“. Sie
stiegen ein und führen los, mit Bruder Ronnie am Steuer des Van,
der zehn Personen Platz bot und auf beiden Seiten die Aufschrift
FIRST-BAPTIST-KIRCHE VON SLONE, TEXAS trug. Alle winkten den
Freunden und Nachbarn zu. Und in die Kamera.
Reeva weinte schon, bevor sie den Stadtrand erreicht
hatten.
Nach fünfzehn Minuten in Robbies ruhigem, abgedunkeltem Büro
ging es Boyette wieder besser. Er blieb auf dem Sofa liegen, völlig
benommen vor Schmerzen, Hände und Füße immer noch etwas zittrig.
Als Keith den Kopf durch die Tür steckte, sagte er: „Ich bin noch
am Leben, Reverend.“
Keith kam näher. „Wie geht es Ihnen?“
„ Viel besser.“
„ Kann ich Ihnen etwas bringen?“
„ Kaffee. Er scheint gegen die Schmerzen zu helfen.“
Keith ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Dann suchte
er Robbie und sagte ihm, dass Boyette noch am Leben sei. Die
Gerichtsstenografin war gerade dabei, Boyettes Aussage zu
übertragen. Sammie Thomas und die beiden Assistenten Carlos und
Bonnie arbeiteten fieberhaft daran, einen Schriftsatz
zusammenzustellen, der jetzt schon „der Boyette -Antrag“ genannt
wurde.
Richter Elias Henry betrat die Kanzlei. Er ging an der
Rezeptionistin vorbei in den Besprechungsraum. „Hier drüben“, sagte
Robbie und führte den Richter in eine kleine Bibliothek. Er schloss
die Tür, nahm eine Fernbedienung in die Hand und sagte: „Das müssen
Sie sich ansehen.“
„ Um was geht es denn?“, fragte Richter Henry, während er sich
auf einen Stuhl fallen ließ.
„ Moment noch.“ Robbie richtete die Fernbedienung auf einen an
die Wand montierten Bildschirm, und Boyette erschien. „Das ist der
Mann, der Nicole Yarber getötet hat. Wir haben es gerade
aufgenommen.“
Das Video dauerte vierzehn Minuten. Sie sahen es sich an, ohne
ein Wort zu sagen.
„ Wo ist er?“, fragte Richter Henry, als der Bildschirm dunkel
wurde.
„ In meinem Büro, auf dem Sofa. Er hat einen bösartigen
Gehirntumor - jedenfalls behauptet er das - und wird bald sterben.
Am Montagmorgen ist er in Topeka, Kansas, in das Büro eines
lutherischen Geistlichen marschiert und hat ihm alles erzählt. Er
hat ein bisschen Katz und Maus mit ihm gespielt, aber irgendwann
ist es dem Pfarrer gelungen, ihn in ein Auto zu setzen. Vor zwei
Stunden sind sie in Slone angekommen.“
„ Der Pfarrer hat ihn hergefahren?“
„ Ja. Moment.“ Robbie öffnete die Tür und rief Keith herein. Er
stellte ihn Richter Henry vor. „Das ist er“, sagte Robbie, während
er Keith auf den Rücken klopfte. „Setzen Sie sich. Richter Henry
ist Richter an unserem Bezirksgericht. Wenn er im Prozess gegen
Donte Drumm den Vorsitz gehabt hätte, wären wir jetzt alle nicht
hier.“
„ Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Keith.
„ Das muss alles ziemlich aufregend für Sie sein.“
Keith lachte. „Ich weiß gar nicht mehr, wo ich bin oder was
ich gerade tue.“
„ Dann haben Sie sich die richtige Kanzlei ausgesucht“,
erwiderte Richter Henry. Alle lachten, doch dann war wieder Schluss
mit der Heiterkeit.
„ Was halten Sie davon?“, fragte Robbie den Richter.
Richter Henry kratzte sich an der Wange, überlegte kurz und
sagte dann: „Die Frage ist, was das Gericht davon halten wird. Das
ist nicht vorhersehbar. Überraschungszeugen, die fünf vor zwölf
auftauchen und Fakten ändern, die zehn Jahre alt sind, mag man dort
überhaupt nicht. Und einem Mann, der ein gewohnheitsmäßiger
Vergewaltiger ist, wird man sowieso nicht ohne weiteres glauben.
Ich würde sagen, es besteht nur eine geringe Chance dafür, einen
Aufschub der Hinrichtung zu erreichen.“
„ Das ist erheblich mehr, als wir noch vor zwei Stunden gehofft
haben“, sagte Robbie.
„ Wann stellst du den Antrag? Es ist fast zwei.“
„ Innerhalb der nächsten Stunde. Ich habe noch eine Frage.
Erzählen wir der Presse von Mr. Boyette? Ich werde das Video ans
Gericht und an den Gouverneur schicken. Ich kann es auch unserem
lokalen Fernsehsender geben oder allen
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