Geständnis
Pryor
reaktionsschnell. „Er wiegt keine siebzig Kilo mehr, ist hager und
ausgezehrt und sitzt mit rasiertem Schädel dreiundzwanzig Stunden
am Tag in einer winzigen Zelle. Ich glaube, er ist nicht mehr ganz
richtig im Kopf.“
„ Er hat mir ein paarmal geschrieben, wussten Sie
das?“
„ Nein.“
Robbie beugte sich näher zum Telefon. Das hörte er zum ersten
Mal.
„ Nicht lange nachdem er eingesperrt worden war, ich war noch in
Slone. Zwei oder drei Briefe. Lange Briefe. Er hat sich über den
Todestrakt ausgelassen, wie schlimm es da ist - das Essen, der
Lärm, die Hitze, die Isolation und so weiter. Er hat geschworen,
dass er Nikki nie angerührt hat, dass er nie was mit ihr hatte. Er
hat geschworen, dass er nicht in der Nähe des Einkaufszentrums war,
als sie verschwand. Er hat mich angefleht, die Wahrheit zu sagen,
damit er das Berufungsverfahren gewinnt und aus dem Gefängnis
kommt. Ich habe nie geantwortet.“
„ Haben Sie die Briefe noch?“, fragte Pryor. „Nein. Ich bin so
oft umgezogen.“
Die Bedienung erschien und nahm den Teller mit. „Noch eine
Margarita?“, fragte sie, aber Joey winkte ab.
Pryor beugte sich, auf die Ellbogen gestützt, vor, bis nur
noch wenige Zentimeter ihre Gesichter trennten. „Wissen Sie, Joey“,
begann er, „ich arbeite nun schon jahrelang an diesem Fall. Und ich
habe Tausende von Stunden in ihn investiert, unter anderem in
Überlegungen, wie es wirklich gewesen sein könnte. Hier ist meine
Theorie. Sie waren verrückt nach Nikki, was ja verständlich ist -
sie war verdammt süß, beliebt, scharf, die Sorte von Mädchen, die
man am liebsten für immer mit nach Hause nehmen möchte. Aber sie
hat Ihnen das Herz gebrochen, und für einen Siebzehnjährigen gibt
es nichts Schlimmeres. Sie waren am Boden zerstört, fertig mit den
Nerven. Dann verschwand sie. Die ganze Stadt war entsetzt, aber Sie
und alle anderen engen Freunde von Nikki standen richtig unter
Schock. Jeder wollte sie finden. Jeder wollte helfen. Wie hatte sie
sich plötzlich in Luft auflösen können? Wer hatte sie entführt? Wer
konnte Nikki ein Leid zufügen? Vielleicht glaubten Sie sogar, dass
Donte was damit zu tun hatte, vielleicht auch nicht. Jedenfalls
waren Sie emotional am Ende, und in diesem Zustand beschlossen Sie,
etwas zu unternehmen. Sie riefen Detective Kerber an, um ihm den
anonymen Hinweis zu geben, und von da an lief alles wie von selbst.
In diesem Moment nahmen die Ermüdungen eine fatale Wendung, die
nicht mehr rückgängig zu machen war. Als Sie hörten, dass er
gestanden habe, hatten Sie wahrscheinlich das Gefühl, richtig
gehandelt zu haben. Den Richtigen erwischt zu haben. Sie erfanden
die Geschichte von dem grünen Van, und auf einmal waren Sie der
Starzeuge. Sie wurden zum Helden für all die wundervollen Menschen,
die Nicole Yarber geliebt und verehrt hatten. Sie traten in den
Zeugenstand, hoben die rechte Hand und sagten nicht die Wahrheit.
Aber das spielte keine Rolle. Sie waren da und halfen Ihrer
geliebten Nikki. Donte wurde in Ketten abgeführt, direkt in die
Todeszelle. Vielleicht war Ihnen klar, dass er eines Tages
hingerichtet werden würde, vielleicht auch nicht. Ich gehe davon
aus, dass Sie damals, als Teenager, nicht erkannt hatten, welche
Tragweite Ihre Falschaussage haben würde.“
„ Er hat gestanden.“
„ Ja, und sein Geständnis ist ungefähr so verlässlich wie Ihre
Zeugenaussage. Es gibt viele Gründe, nicht die Wahrheit zu sagen,
stimmt's, Joey?“
Es entstand eine lange Pause, in der beide Männer überlegten,
was sie als Nächstes sagen sollten. Robbie in Slone wartete ruhig,
obwohl Geduld sonst nicht zu seinen Stärken zählte.
Joey sprach als Nächster. „Was muss in diese eidesstattliche
Erklärung?“
„ Die Wahrheit. Sie erklären unter Eid, dass Ihre Aussage im
Prozess nicht korrekt war und so weiter. Unser Büro bereitet alles
vor. Das kann binnen einer Stunde erledigt sein.“
„ Mal langsam. Ich würde also praktisch sagen, dass ich vor
Gericht gelogen habe?“
„ Wir können es eleganter formulieren, aber im Grunde geht es
darum, ja. Wir würden auch gern die Sache mit dem anonymen Tipp
klären.“
„ Und die eidesstattliche Erklärung würde dem Gericht vorgelegt
werden und am Ende in der Zeitung stehen?“
„ Sicher. Die Presse verfolgt den Fall. Über Anträge in letzter
Minute wird ganz sicher berichtet werden.“
„ Meine Mutter würde also in der Zeitung lesen, dass ich jetzt
sage, ich hätte damals im Prozess
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