Geständnis
www.wemissyounikki.com, und lud
unzählige Fotos ihrer Tochter hoch. Sie bloggte unablässig Neues
über Nikki und den Fall und saß häufig die ganze Nacht am Computer.
Zweimal drohte Robbie Flak ihr an, sie zu verklagen, weil sie
verleumderisches Material veröffentliche, aber er wusste, dass es
klüger war, sie in Ruhe zu lassen. Sie forderte Nikkis Freunde und
Freundinnen auf, ihre schönsten Erinnerungen und Geschichten zu
posten, und war sauer, als die jungen Leute das Interesse
verloren.
Oft trug ihr Verhalten geradezu bizarre Züge. Regelmäßig
unternahm sie lange Fahrten am Fluss entlang, um ihre Tochter zu
suchen. Häufig wurde sie auf Brücken gesehen, wo sie
gedankenverloren ins Wasser starrte. In Shreveport, Louisiana,
hundertachtzig Kilometer südöstlich von Slone, gabelt sich der Red
River. Reeva war bald besessen von dieser Stelle. Sie fand ein
Hotel mitten in der Stadt, mit Blick auf den Fluss, und es wurde zu
einer Zuflucht für sie. Sie verbrachte viele Tage und Nächte dort,
streifte durch die Stadt, besuchte Einkaufszentren, Kinos und
andere Orte, wo sich Teenager gern treffen. Sie wusste, dass es
irrational war. Sie wusste, dass Nikki nicht überlebt haben konnte
und sich nicht nur vor ihr verbarg. Nichtsdestotrotz führ sie nach
Shreveport und studierte die Gesichter von Passantinnen. Sie konnte
nicht anders. Sie musste etwas tun.
Wenn irgendwo junge Mädchen vermisst wurden, führ Reeva hin,
auch in andere Bundesstaaten. Sie war Expertin auf dem Gebiet, und
sie wollte ihr Wissen teilen. „Man kann alles überstehen“ war ihr
Motto, mit dem sie die Familien beruhigen und trösten wollte. Zu
Hause fragten sich unterdessen viele, ob und wie sie selbst es
überstanden hatte.
Jetzt, da der letzte Countdown lief, war sie in heller
Aufregung über die Hinrichtung und alles, was damit zusammenhing.
Die Reporter waren wieder da, und sie hatte viel zu sagen. Nach
neun langen und bitteren Jahren würde nun endlich der Gerechtigkeit
Genüge getan.
Am frühen Montagabend fanden Paul Koffee und Drew Kerber, dass
es an der Zeit wäre, Reeva zu besuchen.
Reeva Pike empfing die beiden Männer mit einem Lächeln an der
Haustür, sogar mit kurzen Umarmungen. Man wusste nie, welche Reeva
man vorfinden würde. Sie konnte charmant sein, aber auch
angsteinflößend. Nun, da Dontes Tod unmittelbar bevorstand, war sie
aufgeregt und zuvorkommend. Sie gingen durch das behaglich
eingerichtete Haus in einen großen Raum hinter der Garage, einen
Anbau, der mit den Jahren Reevas Refügium geworden war. Er war zur
Hälfte Arbeitszimmer mit Aktenschränken und zur Hälfte Schrein für
ihre Tochter. Da gab es große gerahmte Farbfotos, Porträts, die
Bewunderer posthum geschickt hatten, Trophäen, Bänder, Plaketten
und eine Urkunde vom Wissenschaftswettbewerb in der achten Klasse.
Nikkis Leben, jedenfalls ein großer Teil davon, in Bildern und
Exponaten.
Wallis, Reevas zweiter Mann und Nicoles Stiefvater, war nicht
zu Hause. Er hatte sich in den vergangenen Jahren zunehmend
rargemacht, und es ging das Gerücht, dass er das ewige Trauern und
Meckern seiner Frau nicht mehr ertrage. Sie servierte Eistee, und
man nahm um einen Wohnzimmertisch herum Platz. Nach ein paar
Scherzen wandte sich das Gespräch der Hinrichtung zu.
„ Sie haben im Zeugenzimmer fünf Plätze zur Verfügung“, sagte
Koffee. „Wer soll die bekommen?“
„ Wallis und ich ... Chad und Marie wissen es noch nicht genau,
werden aber wahrscheinlich dabei sein.“ Sie redete, als wäre es um
ein Footballspiel gegangen und als hätten Nicoles Halbgeschwister
noch nicht gewusst, ob sie mitkommen wollten. „Den letzten Platz
wird wahrscheinlich Bruder Ronnie nehmen. Er möchte die Hinrichtung
eigentlich nicht sehen, aber er hat das Gefühl, er muss uns
beistehen.“
Bruder Ronnie war im Augenblick Pastor der
First-Baptist-Kirche. Er lebte erst seit drei Jahren in Slone,
hatte Nicole also nicht gekannt, war aber von Drumms Schuld
überzeugt und wollte sich auf keinen Fall mit Reeva
anlegen.
Ein paar Minuten lang sprachen sie über das Protokoll bei
Hinrichtungen, die Regeln für die Zeugen, den zeitlichen Ablauf und
so weiter.
„ Reeva, können wir über morgen sprechen?“, fragte
Koffee.
„ Selbstverständlich.“
„ Wollen Sie die Sache mit Fordyce wirklich
durchziehen?“
„ Ja. Er ist schon in der Stadt, morgen ab zehn Uhr wird
gedreht, hier an dieser Stelle. Warum fragen Sie?“
„ Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“,
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