Geständnis
Johnny Canty, sprechen. Donte hatte
seinen Glauben verloren. Mit dem Gott, der von den frommen Christen
angebetet wurde, die ihn mit aller Macht umzubringen versuchten,
wollte er nichts zu tun haben.
Roberta Drumm wachte in der Dunkelheit von Zimmer 109 auf. Im
letzten Monat hatte sie so wenig geschlafen, dass ihre Müdigkeit
sie jetzt wach hielt. Der Arzt hatte ihr Tabletten gegeben, doch
sie hatten nicht gewirkt und sie noch nervöser gemacht. Es war zu
warm im Zimmer, und sie schlug die Bettdecke zurück. In dem zweiten
Bett, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, lag ihre Tochter
Andrea und schien zu schlafen. Ihre Söhne Cedric und Marvin waren
nebenan. Die Richtlinien des Gefängnisses erlaubten ihnen, Donte an
seinem letzten Tag von acht Uhr morgens bis Mittag zu besuchen.
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, würde man ihn in die
Todeskammer des Gefängnisses in Huntsville bringen.
Bis acht Uhr waren es noch mehrere Stunden.
Der Zeitplan stand fest. Alles, was an diesem Tag geschah,
wurde von einem System diktiert, das für seine Effizienz bekannt
war. Um siebzehn Uhr musste sich die Familie in einem Büro des
Gefängnisses melden. Von dort würde man sie mit einem Van zur
Todeskammer fahren, wo man sie wenige Sekunden vor der tödlichen
Injektion in die kleine Zeugenkammer bringen würde. Sie würden ihn
auf der Bahre liegend sehen, die Giftschläuche bereits in den
Armen, seine letzten Worte hören, etwa zehn Minuten warten, bis man
ihn für tot erklärt hatte, dann schnell wieder gehen. Anschließend
würde man sie zu einem Beerdigungsinstitut fahren, wo sie die
Leiche in Empfang nehmen konnten, um sie nach Hause zu
bringen.
War es nicht vielleicht doch nur ein Traum, ein Albtraum? War
sie wirklich hier und dachte über die letzten Stunden ihres Sohnes
nach, während sie in der Dunkelheit wachlag? Es war tatsächlich ein
Albtraum. Sie lebte diesen Albtraum nun schon seit neun Jahren,
seit dem Tag, an dem man ihr gesagt hatte, dass Donte nicht nur
verhaftet worden war, sondern auch ein Geständnis abgelegt hatte.
Der Albtraum war ein Buch, das so dick war wie ihre Bibel, jedes
Kapitel eine weitere Tragödie, jede Seite voller Kummer und
Unglaube.
Andrea warf sich von einer Seite auf die andere, und das
billige Bett quietschte und knarrte. Dann lag sie still und atmete
schwer.
Für Roberta war auf ein Grauen gleich das nächste gefolgt: der
Schock, als sie ihren Sohn zum ersten Mal im Gefängnis gesehen
hatte, in einem orangefarbenen Overall, die Augen vor Angst weit
aufgerissen; der dumpfe Schmerz in ihrem Magen, als sie daran
dachte, wie es ihm im Gefängnis wohl ergehen mochte, weit weg von
seiner Familie, umgeben von Kriminellen; die Hoffnung auf einen
fairen Prozess, die zunichtegemacht wurde durch die Erkenntnis,
dass er alles andere als fair war; ihr lautes, ungehemmtes
Schluchzen, als das Todesurteil verkündet wurde; der letzte Blick
auf ihren Sohn, der von fetten, selbstzufriedenen Hilfssheriffs aus
dem Gerichtssaal geführt wurde; die zahllosen Berufungen,
Revisionen und schwindenden Hoffnungen; die unzähligen Besuche im
Todestrakt, während derer sie zusehen musste, wie ein starker
junger Mann langsam verfiel. Roberta verlor viele Freunde, doch es
war ihr egal. Einige äußerten Zweifel an seinen
Unschuldsbeteuerungen. Andere hatten es satt, dass sie nur noch
über ihren Sohn redete. Doch sie war am Ende und hatte ansonsten
nur wenig zu sagen. Wie konnte ihr jemand nachfühlen, was sie
durchmachte?
Und der Albtraum würde nie zu Ende sein. Nicht heute, wenn
Texas ihn hinrichtete. Nicht nächste Woche, wenn sie ihn begrub.
Und auch nicht irgendwann in der Zukunft, wenn die Wahrheit endlich
ans Licht käme - falls sie überhaupt jemals ans Licht
kam.
Es gab viele Tage, an denen Roberta Drumm nicht mehr wusste,
ob sie noch die Kraft finden würde, morgens aufzustehen. Sie hatte
es satt, so zu tun, als wäre sie stark.
„ Mom, bist du wach?“, fragte Andrea leise.
„ Das weißt du doch.“
„ Hast du überhaupt geschlafen?“
„ Nein, ich glaube nicht.“
Andrea schob ihre Bettdecke weg und streckte die Beine. Das
Zimmer war stockdunkel, von draußen drang kein Licht herein. „Es
ist halb fünf.“
„ Ich kann nichts sehen.“
„ Meine Uhr leuchtet im Dunkeln.“
Andrea war das einzige Kind der Familie Drumm, das studiert
hatte. Sie arbeitete als Vorschullehrerin in einer Stadt bei Slone.
Sie war verheiratet und wäre jetzt am liebsten zu Hause gewesen, in
ihrem Bett, weit
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