Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
das Ludwig-Guttmann-Haus benannt worden, nach seinen Methoden wurde in Heidelberg behandelt.
Als ich in der Heidelberger Klinik eintraf, war es Abend. Ich wurde auf ein Spezialbett mit verschiebbaren Matratzenblöcken gelegt. Dekubitusgefährdete Stellen können auf diese Weise entlastet werden. Die erste Nacht werde ich nie vergessen. Sie war furchtbar. Ich konnte mich nicht bewegen, hatte Schmerzen, an Schlafen war nicht zu denken. Die Stunden krochen dahin. Der Morgen brachte dann den bisherigen Höhepunkt meiner Biographie. Ich sah erstmals den Chef des Zentrums, Privatdozent Dr. Volkmar Paeslack. Später habe ich seine ruhige, strenge, aber auch gütige Art zu schätzen gelernt. An diesem Morgen kam er mir aber gar nicht gütig vor. »Sie sind komplett querschnittgelähmt«, war seine Begrüßung, »stellen Sie sich darauf ein, dass Sie nie mehr laufen können und Ihr Leben im Rollstuhl verbringen werden.« Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Das konnte nicht wahr sein. Doch nicht ich! Obwohl es ja eigentlich auf der Hand lag, war mir dieser Gedanke nie auch nur im Entferntesten gekommen. Ich habe später von anderen Leidensgefährten gehört, dass es ihnen genauso gegangen war. Es gibt offenbar einen inneren Schutzmechanismus, der einen davon abhält, das Offenkundige wahrzunehmen. Es soll ja Lungenfachärzte geben, die einen Lungenkrebs bei jedem anderen richtig diagnostizieren, ihn aber bei sich selbst nicht erkennen. So ähnlich muss es mir gegangen sein. Seit Monaten kein Gefühl vom fünften Brustwirbel abwärts, alle Funktionen ausgefallen, was konnte das schon anderes sein als eine Querschnittlähmung? Ich hatte aber bis Heidelberg die Annahme dieser Nachricht verweigert. Jetzt wusste ich es. Jetzt lag ich da. Alle Pläne kaputt. Ade, Lufthansa, ade, Pilotenlaufbahn. Mit dreiundzwanzig Jahren das Leben in Trümmern. Kein fertiges Studium, kein Beruf, kein Geld, vermutlich ein Pflegefall. Ich erinnerte mich an Geschichten, die ich von solchen Querschnittgelähmten gehört hatte. Sie sollen irgendwie bei lebendigem Leib vor sich hin faulen.
The Krüppel Brothers
Ich kam in ein größeres Krankenzimmer. Acht Betten. In den meisten junge Männer wie ich. Verkehrsunfälle, Badeunfälle. Das Erste, was mir auffiel, war der lockere Ton. Wie ging denn das? Die waren doch in der gleichen Situation wie ich – und redeten über alles Mögliche, rissen Witze, lasen Zeitung, bekamen Besuch, flirteten sogar mit den Krankenschwestern. Das kam mir sehr merkwürdig vor. Merkwürdig war auch, was sonst in dem Zimmer passierte. Alle vier Stunden kam eine Art Rollkommando: Krankenpfleger, die uns hochhoben, die Matratzen zurechtrückten und uns dann in einer anderen Stellung wieder ablegten. Tag und Nacht. Dekubitusprophylaxe hieß das. In München hatten sie das nicht gemacht. Entsprechendsah mein Hinterteil aus. Als Dr. Paeslack es sah, schüttelte er den Kopf und ließ einen Fotografen kommen. »Fürs Lehrbuch«, sagte er. Rohes Fleisch, Eiter, ein Stück Hüftknochen. Die zehn mal zehn Zentimeter große Wunde musste mit einer sogenannten Schwenklappenplastik verschlossen werden. Das hat meinen Klinikaufenthalt um runde drei Monate verlängert. Ich kam erst kurz vor Weihnachten wieder nach Hause.
Im Krankenzimmer geschahen noch andere seltsame Dinge. Alle paar Stunden schlugen sich die Kollegen eine Zeit lang mit der Handkante gegen den Bauch. Es sah aus wie eine spezielle Variante mittelalterlicher Selbstgeißelung. »Blasentraining« sei das, erklärte man mir. Der gelähmten Blase sollte auf diese Weise ein »reflexhaftes Entleeren« anerzogen werden. Aha. Noch unangenehmer war die Sache mit dem Darm. Auch er funktionierte ja nicht mehr normal und wurde an sogenannten Abführtagen auf unterschiedliche unappetitliche Weise »trainiert«.
Natürlich wurde über Sex geredet. Andauernd. Acht Kerle zwischen achtzehn und dreißig, Tag und Nacht in einem Zimmer, dazwischen bildhübsche junge Krankenschwestern und Physiotherapeutinnen – Knetmiezen wurden sie genannt, wenn Dr. Paeslack nicht in der Nähe war –, das wäre überall ein Thema gewesen. Bei uns mischte sich etwas Beklemmendes in die übliche Tonlage. Wie sah das denn künftig aus mit dem Sex? Ging es noch? Ging es nicht mehr, wie einige behaupteten? Oder ging es nur anders als bisher? Und wenn ja, wie? Das waren Fragen, die uns mindestens so sehr zu schaffen machten wie die lahmen Beine. Meine eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiet waren damals noch sehr
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