Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
überschaubar. Eine ängstliche, auf ihre Jungfräulichkeit bedachte Schulfreundin in Lindau, eine sexuell eher unbegabte Studentin in Berlin, eine untreue Ehefrau in München, eine desinteressierte Prostituierte in Hamburg, das war alles. Mehr Versuche als Ergebnisse. Das konnte es doch nicht gewesen sein. Oder doch? Ich weiß, dass heute in Querschnittzentren speziell ausgebildete Psychologen mit den Patienten genau diese Fragen besprechen. Damals war das nicht üblich. Über solche Dinge sprach man nicht. Und so blieben wir unsicher und unberaten, auf Vermutungen angewiesen, später auf Experimente. Man überspielte die Sorgen durch Sprüche und zotige Witze. Heute gibt es nicht nur in der Sexualberatung der Querschnittpatienten große Fortschritte. Man spricht diese heiklen Fragen offen an und informiert vor allem ungeniert über die verbliebenen Möglichkeiten. Darüber hinaus wird das ganze soziale Umfeld in die Behandlung einbezogen. Man wird durch einen solchen Unfall ja total aus seinem bisherigen Lebenszusammenhang herausgerissen und hat keine Vorstellung, wie es weitergehen soll. Kann man wieder arbeiten? Wenn ja, was? Gibt es spezielle Berufe für Rollstuhlfahrer? Wie findet man sie? Wer bildet einen dafür aus? Wer trägt die Kosten? Wie kommt man zu einer barrierefreien Wohnung, wie zu einem behindertengerechten Auto? All das wird heute in einem Querschnittzentrum von speziell geschulten Fachleuten mit jedem Patienten individuell besprochen. Die nötigen Kontakte werden hergestellt, und wenn er die Klinik verlässt, weiß er wenigstens ungefähr, wie es weitergehen könnte.
1967 war man davon noch weit entfernt. Dass man das alles irgendwie in den Griff bekommen konnte, wusste ich damals nicht. Trotz der lockeren Sprüche und der gespielten Coolness im Zimmer wurde ich angesichts des geballten Elends von Tag zu Tag depressiver. Ich kam zu der Überzeugung, dass ich so unter keinen Umständen leben wollte, und machte mir erste Gedanken, wie man der Sache ein Ende bereiten könnte.Das war aber gar nicht so einfach. Zunächst begann ich, das Valium zu sammeln, mit dem man mich zu sedieren versuchte. Mein Bettnachbar hat das beobachtet und mir lachend erklärt, dass man sich damit beim besten Willen nicht umbringen könne. Das sei ein Beruhigungsmittel, sonst nichts. Okay, dann musste es eben einen anderen Weg geben. Bevor ich mir aber eine bessere Methode ausdenken konnte, machte ich eine eigenartige Beobachtung. Weil das Unglück in dieser Klinik ja kollektiv war, relativierte es sich allmählich. Keiner konnte laufen, also wurde das Gelähmtsein zur Norm. Man saß eben im Rollstuhl. Alle taten das. Es bildete sich ein eigener Kosmos mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und eigenen Hierarchien. Es gab die Tetraplegiker, das waren die hohen Lähmungen, die auch die Arme und Hände nicht oder kaum mehr gebrauchen konnten. Arme Schweine, da war man als Paraplegiker, der nur »unten rum« lahm war, schon wieder gut dran und konnte eigentlich ganz zufrieden sein. Krüppel-Elite sozusagen. Das Wort »Krüppel« war im Übrigen verpönt in Heidelberg und durfte nicht benutzt werden. Man war Behinderter. Meine Nachlässigkeit in dieser Frage hat mir einmal eine offizielle Rüge und die Androhung einer zwangsweisen Entlassung eingebracht. Einige Rollstuhlfahrer hatten eine Band gegründet und suchten einen Namen. Ich habe »The Krüppel Brothers« vorgeschlagen. Das hätte ich besser nicht tun sollen.
Was ich sagen will: In dem geschützten Biotop einer Rollstuhlfahrer-Gesellschaft relativierte sich der Schock der ersten Wochen. Man fasste Fuß im neuen Leben, erkämpfte sich einen Platz und knüpfte neue soziale Kontakte. Ich hatte Schwester Rita, die mir immer noch in die Augen sah und mit der ich meinen ersten Rollstuhlausflug in die Heidelberger Altstadt unternahm. Ich befreundete mich mit Eike Behrendt, einem Studenten, der auf einer Reise durch Israel verunglückt war und der mit seinembissigen Humor gut zu mir passte. »Oh, the terrible twins again«, pflegte unsere englische Physiotherapeutin immer zu sagen, wenn sie uns sah. Und ich redete oft mit Rainer de Beisac, einem Wiesbadener Antiquitätenhändler, der mit seinem Porsche von der Straße abgekommen war und uns jetzt mit Weiber- und anderen Geschichten aus seinem früheren Leben unterhielt. »Großes B, kleiner Eisack«, buchstabierte er seinen Namen immer. Er hatte Pech im Unglück. Sein Bruch lag hoch im Nackenwirbelbereich. Als Tetraplegiker war er
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