Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
wir mit ihm unsere Abiturreise gemacht, und ich werde nie vergessen, wie er uns auf dem Forum Romanum vorspielte, wie Kaiser Augustus dereinst auf die Niederlage seines Feldherrn Varus im Teutoburger Wald reagiert haben soll. Er, Schäfer alias Augustus, kniete nieder, riss sich mit der linken Hand das Sakko auf, schlug mit der rechten gegen seine Stirn und rief laut, dass es über das Forum schallte: »Vare, Vare, redde legiones!« (Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder!) Dieser kleine, immer etwas lächerlich wirkende Dr. Schäfer, mit dem ich nie etwas Näheres zu tun hatte, sah mich in meinem Rollstuhl an, wiegte seinen runden Kopf und meinte: »Udo, Sie brauchen erst einmal ein Auto. Ich werde mich darum kümmern.« Ohne jedes weitere Aufheben besorgte und bezahlte er einen nagelneuen, behindertengerecht umgebauten Opel Rekord und wünschte mir am Telefon gute Fahrt. Er ist am 20. März 1985 in Bad Oberdorf gestorben. Ich werde ihn nie vergessen.
So habe ich es versucht. Der Opel war feuerrot und fühlte sich gut an. Ich machte den Idiotentest, um wieder Auto fahren zu dürfen. Zwei Problemkreise gelte es zu berücksichtigen, sagte man mir dort. Einmal eine mögliche psychologische Sperre. Viele Unfallopfer hätten Schwierigkeiten, nach ihrem traumatischen Erlebnis wieder in ein Auto zu steigen. Ich spürte nichts dergleichen, im Gegenteil, ich wollte möglichst schnell wieder Auto fahren können. Dann das technische Problem. Fahren ohne Beine will gelernt sein. Man muss zwangsläufig alles mit den Händen erledigen. Zu diesem Zweck hatte das Auto rechts neben dem Lenkrad ein sogenanntes Handgerät. Das war im Grunde nur eine Stange mit einem nach oben gebogenen Handgriff. Wenn man die Stange nach unten drückte, übertrug sich die Kraft auf das Bremspedal. Wenn man den Handgriff nach vorn schob, gab man Gas. Lenken konnte man dann nur mit der linken Hand. Das fühlte sich eigenartig an, aber nach etwas Gewöhnungszeit kam ich damit zurecht. Schwieriger war das Einsteigen und das Verstauen des Rollstuhls. Um selbständig zu sein, musste man das allein können. Man öffnete dazu die Beifahrertür, fuhr mit dem Rollstuhl neben den Beifahrersitz und schwang sich hinüber.Jetzt musste der Rollstuhl vom Auto aus zusammengeklappt und in einen rechten Winkel zum Auto bugsiert werden. Dann hob man die kleinen Vorderräder etwas an und stellte sie hinter den Beifahrersitz in die Türöffnung. Als nächstes rutschte man hinüber auf den Fahrersitz, klappte die Rückenlehne des Beifahrersitzes nach vorn, fasste zum Rollstuhl hinüber und zog ihn ins Auto. Ich bin auf diese leicht akrobatische Weise später jahrelang selbständig zur Arbeit und wieder nach Hause gefahren. Heute gibt es elektrische Hebevorrichtungen, die das alles automatisch machen.
Für mich war das der erste »Schritt« ins neue Leben. Eva Faltermaier besorgte mir ein Zimmer in einem Studentenwohnheim in der Agnesstraße in München und einen Vorstellungstermin bei Professor Motekat. Auch Motekat war überaus freundlich und sprach mir Mut zu. Langsam erwachte die Kampfeslust in mir, und ich beschloss, zumindest das abgebrochene Studium zu Ende zu bringen.
Einfach war es nicht. Die vielen praktischen Probleme, vor denen mir gegraut hatte, sie waren alle da. Im Studentenheim beispielsweise gab es pro Etage ein Klo mit Dusche. Die Tür war aber so eng, dass man mit dem Rollstuhl nicht durchkam, und ein Klo war ja nun kein Luxus, auf den man hätte verzichten können. Eva, die im Mädchentrakt desselben Studentenheims wohnte, besorgte ein längliches Beistelltischchen, das wir in das Duschklo stellten. Ich musste mit dem Rollstuhl bis zur Tür fahren, dann auf das Tischchen hüpfen, die Tür irgendwie schließen, zur Kloschüssel hinüberrutschen – den Rest kann man sich ausmalen. Manchmal, wenn ich morgens aufwachte und diese Zeremonie vor mir hatte, wäre ich am liebsten nie mehr aufgestanden. Eva Faltermaier hat in diesen ersten Wochen Übermenschliches geleistet. Sie zwang mich aufzustehen, sie besorgte mir Essen, verführte mich,mit ihr zur Universität zu fahren – und ertrug meine kontinuierlich schlechte Laune, die ich ausschließlich an ihr ausließ. Sonst war ja niemand da. Später wurde es etwas besser. Ich kam in Kontakt zu einigen Mitbewohnern, vor allem zu zweien: Andreas Volwahsen, einen karrierebewussten Architekturstudenten, der über indische Baudenkmäler promovierte, und Ulrich Wagner-Grey, einen angehenden Bauingenieur, der
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