Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
auch an Armen und Händen gelähmt. Seine Zukunftsaussichten waren düster. Doch er reagierte genial und heiratete eine der Heidelberger Krankenschwestern, die Hermine aus Holland, die ihn später in einem VW-Bus zu den Antiquitätenversteigerungen chauffierte. In der Wiesbadener Taunusstraße betrieben die beiden viele Jahre ihr Geschäft, bis er 2012 mit 72 gestorben ist.
Die Heidelberger Pseudo-Idylle brach an dem Tag zusammen, an dem ich aus dem Biotop entlassen wurde. Es war Ende November 1967. Bekannte meiner Eltern holten mich mit dem Auto ab und brachten mich nach Lindau. Nicht mehr in den Mühlweg 10, wo wir im ersten Stock gewohnt hatten, sondern ein Haus weiter, Mühlweg 12. Meine Eltern waren dort meinetwegen in eine Erdgeschosswohnung gezogen.
Als Erstes merkt man, dass die Welt außerhalb eines Querschnittzentrums nicht für Rollstühle gemacht ist. In Heidelberg war alles stufenlos, die Türen öffneten sich durch Lichtschranken oder hatten zumindest Greifbügel, an denen man sie bequem aufziehen konnte, die Toiletten waren geräumig, man konnte mit dem Rollstuhl neben der Kloschüssel einparken und sich an klug platzierten Griffen festhalten. Und jetzt? Überall Schwellen, das Klo zu eng, das Waschbecken nicht unterfahrbar, die Türenaus dem Rollstuhl heraus schwer aufzubekommen, die Schränke zu hoch und vor der Haustür auch noch drei Stufen. In der Küche fiel mir zwischen dem Kühlschrank und der Waschmaschine eine Lücke auf, die gerade so breit war, dass der Rollstuhl hineinpasste. Da stell ich mich hinein und rühr mich nicht mehr weg, dachte ich mir. Doch das war auf Dauer natürlich auch keine Lösung.
Auch der Umgang mit dem Rollstuhl ist komplizierter, als es aussieht. Er hat seinen eigenen Willen. Man muss ihn zähmen wie der Torero den Stier, ihn zu einem Teil des eigenen Körpers machen. Man muss aber auch auf ihn hören, spüren, was er will, und ihn nicht ohne Not verärgern. Davon hat man am Beginn des Zusammenlebens natürlich keine Ahnung. Ich erinnere mich an meinen ersten Ausflug in Lindau. Ich wollte vom Bürgersteig hinunter auf die Straße und dachte, die Bordsteinkante nehme ich am besten im Schwung, dann lande ich in einer Art Gleitflug auf Straßenniveau. Das war ein Irrtum. Ich landete zwar, aber auf der Fresse. Der Rollstuhl war vornüber auf die Straße gekippt. Zum Glück kam gerade kein Auto vorbei.
Was sollte nur werden? Meine Mutter machte mir zu essen – und erzählte mir, dass der Vater am Morgen in der Küche vor Verzweiflung einen Heulkrampf bekommen habe. Am Tag zuvor hatte ich mich in Bremen bei der Pilotenschule endgültig abgemeldet. Ich blieb ein paar Tage im Bett liegen und heulte auch. Schwester Rita kam zu Besuch und erzählte mir von Rollstuhlfahrern, die es geschafft hatten. Ich sei doch stark, und es komme bei einem Menschen nicht auf die Beine, sondern auf das Herz an. Da war ich mir nicht so sicher. Dann kam meine Studienfreundin Eva Faltermaier. Sie habe in München mit Professor Motekat gesprochen, bei dem ich im Semester zuvor das Seminar über Gottfried Benn gemacht hatte. Er würde mich wieder nehmen, und ich könnte eine Doktorarbeitbei ihm schreiben. Vielleicht war das weniger trostlos als der Platz zwischen Waschmaschine und Kühlschrank?
In memoriam Dr. Maximilian Schäfer
Aber wie sollte das praktisch aussehen? Wie kam ich nach München? Wo sollte ich dort wohnen? Meine alte Studentenbude lag im zweiten Stock ohne Lift. Wie zur Universität kommen? Wie sollten die alltäglichen Notwendigkeiten funktionieren? Einkaufen, essen? Die Welt, das hatte ich inzwischen gemerkt, war voller Treppen und Bordsteinkanten, und rollstuhlgerechte Eingänge und Einrichtungen, wie man sie heute überall findet, gab es damals nirgends. Mein altes Studentenauto lag zertrümmert auf dem Schrottplatz. Ein neues, behindertengerechtes konnten sich meine Eltern nicht leisten. Bevor ich resignieren konnte, ist damals etwas Unglaubliches geschehen. Mein alter Lateinlehrer, Dr. Maximilian Schäfer, der inzwischen pensioniert war und auf dem Bauernhof seiner Familie in Bad Oberdorf im Allgäu lebte, besuchte mich. Wir hatten uns in der Schule immer über seine Weltfremdheit lustig gemacht. Er war ein kleiner runder Mann mit einem kleinen runden Glatzkopf. Sehr katholisch. Gegen eventuelle sexuelle Versuchungen empfahl er uns, statt zu onanieren, Fahrradfahren und Joghurtessen. Seine Welt war die Antike. Wenn es um das alte Rom ging, blühte er auf. Dorthin hatten
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