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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Reiter
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später seiner Branche den Rücken kehrte und mit mir zum Bayerischen Rundfunk ging. Wir saßen oft zusammen vor unseren Zimmern. Dort auf dem Hausflur vor dem Eingang zu einer kleinen Küche stand ein Tisch, an dem sich das gesellschaftliche Leben abspielte. Hier wurde gegessen, getrunken und endlos diskutiert. Über Lebenspläne, Karrieregestaltung, Frauen, Politik – und über die Frage, ob es sittlich erlaubt sei, dass in einem Western (Django) der Gute durch überlegene Technik (Maschinengewehr) die Oberhand behält. Volwahsen, der von uns Dreien der Erwachsenste war, war natürlich dafür, Wagner-Grey und ich aus grundsätzlichen moralischen Erwägungen dagegen. Auch meine Liebe zu Gottfried Benn war Volwahsen ein Dorn im Auge. Ich saß öfters mit Ulrich Wagner-Grey in meinem Zimmer, und wir hörten andachtsvoll die Platte Jazz und Lyrik, auf der Gert Westphal Benn-Gedichte zu Jazzklängen rezitierte: »Die Frauen unbefriedigt, wenn ihre Sehnsucht Gewicht hätte, wöge jede drei Zentner«, darunter ein klagendes Saxophon, wunderschön. Volwahsen hat dann fast wütend interveniert: Er kenne diese Art der Besoffenheit, sein Vater sei selber Künstler, man werde dadurch nur von einer vernünftigen bürgerlichen Lebensführung abgebracht, wir sollten diesen Unfug sein lassen. Er selbst hat sich streng an diese Grundsätze gehalten. Jeden Abend ging er ohne Rücksicht auf die Proteste seiner Freundin Jutta um neun ins Bett (allein), seine Doktorarbeit hat er auf Hundert-Gramm-Papierdrucken lassen, weil sich das »besser anfühlt«, und bevor er zu einem Termin bei seinem Professor ging, setzte er sich zwanzig Minuten unter eine Höhensonne. Er war hochbegabt, studierte mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes und wurde später »Beauftragter der Havard University für Cityplanning«. Mit einem eigenen Architekturbüro am Starnberger See, wo er mit Frau und fünf Kindern sein bürgerliches Leben führte, hat er den Chinesen für viel Geld Stadtkonzepte verkauft. Kürzlich bin ich ihm nach vielen Jahren zufällig wiederbegegnet. Er ist Pensionär und schreibt wieder Bücher über indische Architektur.

Jakob van Hoddis
    Mein eigenes Studium wurde durch einen glücklichen Zufall begünstigt. 1963, als ich noch zu Fuß war, bin ich zusammen mit meinem Klassenkameraden Walter Erath nach dem Erlebnis meiner Türkei-Reise nochmals in den Nahen Osten aufgebrochen. Wir trampten über den Balkan, durch die Türkei und Syrien bis nach Jerusalem. Dort traf ich einen Germanistikprofessor der Hebrew University und kam mit ihm ins Gespräch. Er hieß Carl Frankenstein und erzählte mir, dass er in seinem Institut einige unveröffentlichte Briefe und Gedichte aus dem Nachlass eines deutschen Expressionisten liegen habe, der als Jude von den Nationalsozialisten umgebracht worden sei. Hans Davidsohn sei sein Name. Als Anagramm aus diesen Buchstaben habe er sich Jakob van Hoddis genannt. Mir hat das nichts gesagt. Ich kannte weder einen van Hoddis noch das »Weltende«, die berühmte Anthologie expressionistischer Lyrik, der ein van-Hoddis-Gedicht den Namen gegeben hatte. Aber jetzt, als es darum ging, ein Dissertationsthemazu finden, fielen mir Professor Frankenstein und sein Dichternachlass wieder ein. Er hat ihn mir geschickt. Ich musste ihm nur versprechen, das Material nach der Auswertung an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach weiterzugeben. Das habe ich gern gemacht.
    So entstand in den nächsten beiden Jahren eine Doktorarbeit mit dem Titel »Jakob van Hoddis – Leben und lyrisches Werk«. Die Ausgangslage zum Teil »Leben« habe ich in einer Vorbemerkung so beschrieben: »Es gibt bis heute keine van Hoddis-Biographie, und es fehlen nahezu alle Unterlagen, um sie zu schreiben. Das unruhige Leben dieses Dichters lässt sich kaum in den Daten genau rekonstruieren – nicht einmal sein Todestag ist bekannt –, Briefe sind nur einige wenige erhalten, Tagebücher fehlen völlig. Von seinen Freunden aus der Zeit vor dem Wahnsinnsausbruch sind – bis auf Kurt Hiller – alle tot: seine Familie emigrierte 1933 nach Israel, und nur seine jüngere Schwester Anna lebt, neunundsiebzigjährig, heute noch in Jerusalem. Die Archive der Heilanstalten, die über den Verlauf seiner Krankheit Auskunft geben könnten, wurden zum Teil im letzten Krieg zerstört, ein anderer Teil der Krankenblätter wurde – nach dreißig Jahren – routinemäßig vernichtet, und nur sehr weniges blieb bis heute erhalten.«
    Zu dem

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