Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
wenigen Erhaltenen gehörten die Krankenakten der Universitätsklinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten in Tübingen aus dem Jahr 1927. Dort, in Tübingen, studierte mein Lindauer Schulfreund Jürgen Müller Medizin. Er hatte Zugang zum Universitätsarchiv und hat mir – nach so langer Zeit ist das hoffentlich erlaubt – die Patientenpapiere besorgt. Auf diese Weise habe ich erstmals etwas über die Krankheit dieses unglücklichen Dichters publiziert. »Hebephrenie (Endzustand)«, lautete die Diagnose. »4. Juli 1927 ungeheilt entlassen.« Hebephrenie ist eine Spezialform der Schizophrenie, die bei van Hoddis zur langsamen Auflösung seiner Persönlichkeit führte.
Was das »lyrische Werk« betrifft, gilt van Hoddis als einer der wichtigsten Wegbereiter des deutschen Expressionismus. Mit dem Angriff auf etablierte literarische Traditionen, mit grellen Bildern und dem sogenannten Simultanstil zog ein neuer Ton in die deutsche Lyrik ein. Geblieben ist von seinen Gedichten aber nur eins, das »Weltende«.
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Ich habe in dieser Doktorarbeit van Hoddis’ Leben dargestellt, seine Gedichte interpretiert und versucht, einen Zusammenhang zwischen seinem Scheitern im Leben und seinem Werk herzustellen. Das Fazit sah ungefähr so aus, dass sein negatives, »auf Anti-Haltungen basierendes Lebensgefühl« nicht ausreichte, um neue Ausdrucksformen zu schaffen, sondern sich weitgehend im Zerbrechen alter Formen erschöpfte. »Ein Ausdruckswille, der sich letztlich am Nicht-Sagbaren orientiert, wird irgendwann am Sagen verzweifeln und scheitern müssen. Van Hoddis’ Gedichte sind die Meilensteine auf diesem Weg in sein Scheitern und Verstummen.« Über diese These kann man sicher streiten. Zumindest habe ich sie selbst verfasst.
An der Universität hatten inzwischen die Achtundsechziger das Kommando übernommen. Die Stimmung war,wenn man es mit dem heutigen Klima an den Hochschulen vergleicht, merkwürdig aufgeheizt. Ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Die Studenten hatten die Schnauze voll von der erstarrten Nachkriegsgesellschaft, wollten es den spießigen Eltern zeigen, die Welt nach vorn bringen, besser machen, gerechter. Das ging zum Teil studentischfröhlich zu, man war kumpelhaft zueinander, attackierte auf witzige Weise Professoren (»Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren«) und bürgerliche Lebensformen (»Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment«). Dagegen war wenig zu sagen. Weniger lustig fand ich die endlosen Diskussionen über die Vietnampolitik und über die künftige repressionsfreie Gesellschaft. Dabei bildete sich schon bald eine neue Hierarchie heraus: es gab die Wortführer, meist redegewandte, romantisch aussehende Revoluzzer, die den Kurs bestimmten und ihre Herde nach kurzer Zeit fest in der Hand hatten. Die herrschaftsfreie Gesellschaft konterkarierte sich hier, noch bevor sie richtig entstanden war. Ärgerlich fand ich, wenn die Jungen Garden Vorlesungen oder Seminare in Politdiskussionen umfunktionierten, und verängstigte Professoren und Mitstudenten ihnen keinen Widerstand leisteten. »Schlagt die Germanistik tot, färbt die blaue Blume rot!«, war die Parole. Ich kann mich an ein Rilke-Seminar erinnern, das heißt an ein angekündigtes Rilke-Seminar. Gleich am Anfang erhob sich ungefragt ein bärtiger linker Weltverbesserer und wollte wissen, wie wir hier über Gedichte sprechen könnten, wo doch gleichzeitig der Imperialismus in Vietnam seine Fratze zeige. Ich habe damals eine interessante Erfahrung gemacht. Weil alle schwiegen, der Professor inklusive, habe ich das Wort ergriffen und ihn angefahren. Was er sich einbilde, hier eine Gruppe von Leuten, die sich freiwillig zu einem bestimmten Zweck zusammengefunden hätten, diktatorisch seinem Willen zuunterwerfen. Er solle seine Vietnamdiskussion gefälligst nach dem Seminar im Schulhof veranstalten. Plötzlich kam allgemeiner Beifall auf. Der Antiimperialist schaute verdutzt und zog Leine. Aber das ging nicht jeden Tag. Am Ende wurde meist diskutiert.
Neben dem Hauptfach musste man in zwei Nebenfächern mündliche Prüfungen ablegen. Ich wählte mittelalterliche
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