Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
ich den Revolver in die Hand – und merkte plötzlich, dass ich gar nicht tot sein wollte. Das ist schwer zu beschreiben. Ich hatte nicht etwa nur mit dem Umbringen kokettiert. Es war mir ernst, und ich hatte fest an meinen Todeswillen geglaubt. Aber in diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass ich mir etwas vorgemacht hatte. Ich war viel zu vital, um freiwillig auf das Leben zu verzichten, und sei es dreimal im Rollstuhl und noch so beschissen.
Aber was denn nun? Ich dachte an diesem Abend noch lange nach. Wenn ich, was offensichtlich war, nicht imstande war, die Sache zu beenden, dann blieb ja nur die Möglichkeit, das Beste daraus zu machen. Und das konnte doch nur heißen, alles, was nicht mehr ging oder wo ich nicht konkurrenzfähig war, auszublenden und auf das Übriggebliebene zu setzen. Also kein Tanzen und kein Skifahren, nichts Sportliches, vermutlich auch nichts Weibliches mehr. Stattdessen Kultur, Arbeit, Lesen und so. Das legte ich mir an diesem Abend zurecht. Später habe ich die Liste nach ein paar einschlägigen Erfahrungen zumindest in einem Punkt korrigiert.
Nach dem Abschluss des Studiums musste ich aus dem Studentenheim ausziehen und versuchen, ein bürgerliches Leben zu beginnen. Am besten mit Beruf und Familie, dachte ich. Beruf war schwierig. Rehabilitationsprogramme für Behinderte, wie sie heute jedes bessere Sozialamt anbietet, waren damals unbekannt. Promovierter Germanist ohne Staatsexamen, wo suchte man denn so was? Ich hörte mich um und wurde schließlich eine Art freier Mitarbeiter beim Deutschen Taschenbuch Verlag. Ich habe die Fahnen von neu entstehenden Taschenbüchern auf Druckfehler hin durchgesehen. Das konnte ich von zu Hause aus machen, und pro Seite gab es immerhin eine Mark. Leben konnte man davon allerdings nicht.
Das mit der eigenen Familie war auch nicht ganz einfach. Dazu müsste man ja heiraten. Ich kannte zwar einige Mädchen, aber gleich zusammen, bis dass der Tod uns scheidet? Ich war doch erst fünfundzwanzig. So viel und so lang andauernde Nähe konnte ich mir selbst in meiner trostlosen Lage schwer vorstellen. Und woher sollten die Kinder kommen? Ging es oder ging es nicht? Das hatte man uns in Heidelberg ja nie genau erklärt. Mit wem konnte man ein so schwieriges Vorhaben angehen? Am ehestenvielleicht mit Ursula Weyermann, der Vertrauten aus Lindauer Jugendjahren. Sie war jetzt Lehrerin und hatte mich ein paarmal in Heidelberg besucht. Sie kannte die Lage also aus eigener Anschauung. Aber wollte sie überhaupt? Ich habe behutsam angefragt. Sie wollte. Als sie es ihrem Vater, dem Lindauer Sparkassendirektor, vortrug, kündigte er entschiedenen Widerstand an. Er wollte mich sprechen. In einer kühlen Unterredung teilte er mir mit, dass sich sein Einwand nicht gegen mich persönlich richte, dass er aber einen Rollstuhlfahrer ohne Beruf, ohne Geld und ohne Aussichten nicht als den zukünftigen Mann seiner Tochter sehe. Seine Lebenserfahrung sage ihm, dass das nicht gut gehen könne. Er wolle mit einer solchen Liaison definitiv nichts zu tun haben. Ich verabschiedete mich etwas perplex, aber ich muss sagen, dass mir seine Haltung imponiert hat. In der Sache hatte er ja recht. So etwas hätte ich meiner eigenen Tochter auch nicht gewünscht. Und dass er das in dieser alttestamentarischen Härte durchzog, hatte etwas Eindrucksvolles. Aber jetzt Hut ab vor seiner Tochter! Sie pfiff auf ihren Vater, zog zu Hause aus und nahm mich. Das habe ich ihr nie vergessen. Sie ließ sich nach München versetzen, besorgte uns eine behindertengerechte Zweizimmerwohnung im Ravensburger Ring in München-Pasing und verdiente das Geld. Und das in dem Bewusstsein, dass es möglicherweise das ganze Leben lang so bleiben würde.
»Doktoressa, helfen Sie!«
Zum Glück ist es nicht so geblieben. Der Lindauer Wahlkreisabgeordnete Franz Heubl, der meinen Vater kannte, schrieb einen Brief an Christian Wallenreiter, den damaligen Intendanten des Bayerischen Rundfunks, und fragte,ob man für einen jungen Mann im Rollstuhl, der immerhin in Germanistik promoviert habe, nicht irgendetwas zu tun hätte. Im Nachhinein kann ich rekonstruieren, wie es dann gelaufen ist. Der Brief wurde nach unten durchgereicht und endete schließlich bei dem für den Nachwuchs zuständigen Redakteur. Das war damals Dr. Kurt Seeberger, ein schon älterer, immer lustiger, stark schielender Radiomacher, der vor allem seine samstägliche Sendung »Kreuz und quer zum Wochenende« im Kopf hatte. Für
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