Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Geschichte. Das ging glatt, das konnte ich einigermaßen. Und Althochdeutsch. Das war schwieriger. Diese Lautverschiebungen und archaischen Klänge machten mir zu schaffen. Der prüfende Professor hieß Hans-Friedrich Rosenfeld und galt als streng und entrückt. Seine Welt war das Hildebrandslied (»Hiltibrant enti Hadubrant«). Nun wollte es der Zufall, dass ich damals seine Assistentin kennenlernte. Wir verstanden uns gut, und mein Rollstuhl hat wohl zusätzliche Fürsorgegefühle in ihr ausgelöst. Jedenfalls verriet sie mir, dass der Alte eine komische Marotte habe. »Er wird dich wahrscheinlich fragen, warum es Garmisch-Partenkirchen heißt, wo es doch nach der zweiten Indogermanischen Lautverschiebung (für die Nummer kann ich heute keine Gewähr mehr übernehmen) angeblich Partzenkirchen heißen müsste. Die Antwort lautet: Das war eine illyrische Sprachinsel.« Ich war beeindruckt, aber in der Prüfung fragte mich Rosenfeld alles Mögliche, nur das nicht. Es ging trotzdem einigermaßen. Ich verabschiedete mich und rollte zur Tür. Kurz bevor ich sie erreichte, rief er mir nach: »Ach, Herr Kollege, noch eine Frage. Wissen Sie zufällig …« Es war die Frage. Ich gab mich verblüfft, wiegte ratlos den Kopf und meinte: »Das ist mir noch nicht aufgefallen. Ich kann es mir auch nicht erklären. Höchstens …« Ich zögerte, er blickte mich erwartungsvoll an. »Könnte es vielleicht eine illyrische Sprachinsel gewesen sein?« Er stürzte auf mich zu und umarmteund küsste mich auf die Stirn. Ich bekam eine 0,5, die Bestnote. »Die Welt ist ungerecht«, pflegte mein späterer Kollege Wolf Feller, der Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks, immer zu sagen.
Smith & Wesson, 38-er spezial
Das war also erledigt. »Magna cum laude« – immerhin. Während der Promotionsmonate habe ich versucht, mich mit meiner Rollstuhlexistenz einigermaßen anzufreunden. Ohne großen Erfolg. In meinem Studentenheim lebten etwa dreihundert Studenten, junge Leute, alle zu Fuß. Sie gingen tanzen, Ski fahren, auf Faschingsbälle und hatten Freundinnen. Letzteres war nachts durch die dünnen Zimmerwände oft unüberhörbar. Man war nett zu mir, aber immer war ich der Außenseiter, immer der, der nicht richtig mitmachen konnte, auf den man Rücksicht nehmen, den man schieben musste. Ich fühlte mich zunehmend elend. Dieses reduzierte Leben passte nicht zu mir. Dazu kamen Pannen. Einmal kam ich spät abends mit dem Auto allein von Lindau zurück. Es regnete wie aus Kübeln. Ich fand eine Parklücke, schob den Rollstuhl aus dem Auto, setzte über und versuchte, zwischen den parkenden Autos auf die Straße zu kommen. Es ging schief. Ich fiel im strömenden Regen aus dem Stuhl in den Rinnstein. Das Wasser lief an mir vorbei und über mich hinweg. Mir fiel ein, dass mein Vater einmal gesagt hatte: »Wenn du so weitermachst, wirst du in der Gosse enden.« Jetzt ist es so weit, dachte ich.
Nach außen ließ ich mir nichts anmerken, aber ich mochte nicht mehr. Das war kein Leben. Ich dachte nach. Valium ging offenbar nicht. Aus dem Fenster stürzen kam nicht in Frage, ich kam ja nicht einmal aufs Fensterbrett.Autoabgase? Wie denn, ohne Garage. Ich wandte mich also ans Amt für öffentliche Ordnung in Lindau und beantragte einen Waffenschein. Meine Begründung: Ich würde des Öfteren allein und bei Dunkelheit von Lindau nach München fahren und könnte mich wegen meiner Behinderung im Falle eines Falles nicht gegen irgendwelche Übergriffe verteidigen. Man war damals noch großzügiger im Ausstellen von Waffenscheinen, aber dieser Fall kam dem Ordnungsamt doch nicht ganz geheuer vor. Man schickte einen Polizeibeamten zu meiner Mutter und ließ nachfragen, ob man mir wirklich eine scharfe Waffe genehmigen sollte. Meine Mutter war harmlos genug, darin kein Problem zu sehen, und so kam ich, ganz legal, erst zu einem Waffenschein und wenig später zu einem Revolver Marke Smith & Wesson, 38-er spezial.
Die Doktorarbeit hatte ich noch fertigstellen wollen, damit wenigstens Dr. Udo Reiter auf dem Grabstein stehen würde. Aber das war nun ja geschehen. Es war so weit. Ich erinnere mich noch gut an den Abend, an dem ich mich umbringen wollte. Ich saß in meiner Studentenbude am Schreibtisch, hatte mir ein letztes Bier eingeschenkt und alles zurechtgelegt. Der Brief an die Eltern war auch fertig. Ich dankte ihnen darin für alles, was sie mir im Leben Gutes getan hatten, und bat sie um Verständnis, dass ich so nicht weitermachen wollte. Jetzt nahm
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