Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Graugänsen. »Konrad Lorenz. Von der Verhaltensforschung zur Zivilisationskritik« war der Titel. Sechzig Minuten in der ARD. Das war schon was. Und es war ungeheuer eindrucksvoll, diesen Mann längere Zeit aus der Nähe zu erleben. Zusammen mit seiner Frau Gretel, die nicht viel sagte, aber ganz offensichtlich für ihn eine Autorität war, zeigte er uns seine Tiere – es waren nicht nur Graugänse – und erzählte lange und launige Geschichten über sie. Wir drehten in seinem Max-Planck-Institut in Seewiesen am Starnberger See und in seinem Haus in Altenberg bei Wien. Ein Mann, der mit seinem weißen Bart aussah wie ein Waldschrat, der aber eine geniale Idee hatte. Nicht nur die Körperformen der Lebewesen, so seine These, hätten sich im Lauf der Evolution durch die unterschiedlichsten Außeneinflüsse herausgebildet, sondern ebenso die Verhaltensweisen. Das war damals revolutionär. Demnach wäre unser Verhalten kein moralisch bewertbares Tun auf Grund freier Willensentscheidung, sondern etwas genetisch Vorbestimmtes. »Das sogenannte Böse« hieß denn auch der Titel des damals hitzig diskutierten Lorenz-Buches.
Mein nächstes großes Thema war Meditation. Das lag seit Beginn der siebziger Jahre in der Luft. Die Beatles hatten den malerischen Maharishi Mahesh Yogi zu ihrem Guru gemacht und damit im Westen einen Boom ausgelöst. Blumen schwingend und Hinditexte singend, saßen hartgesottene Geschäftsleute plötzlich zu Füßen bärtiger Inder, schulklassenweise murmelten sich zivilisationsmüde Gymnasiasten in die Versenkung, und immer mehr westliche Jugendliche zogen in abgelegene indische Aschrams und japanische Zenklöster, um dort ihr Heil im Lotussitz zu suchen. Ich habe mich längere Zeit mit diesem Phänomen beschäftigt und neben etlichen Radiosendungen und zwei Büchern einen Fernsehfilm darüber gemacht, für den ich mit meinem Team auch nach Indien und Japan gereist bin. Das war meine erste große Reise nach dem Unfall. Mir war nicht wohl dabei, ja, ich hatte regelrecht Angst. Wir wollten ja nicht in den Metropolen drehen, da würde man schon irgendwie zurechtkommen, sondern an ziemlich abgelegenen Orten. In Dharamsala zum Beispiel, weit oben im Himalaja, wo der Dalai Lama seinen Sitz hatte, in Pondicherry in Südindien, wo die Meditationsstadt Auroville entstand, oder im japanischen Tenryū-ji-Kloster in einem abgelegenen Tal hinter Kyoto. Gab es da rollstuhlgeeignete Unterkünfte? Hatten die Inder Klos nach westlichem Standard, die ich benutzen konnte? Und bekam in Indien nicht jeder Europäer Durchfall, eine Schreckensvision für Rollstuhlfahrer? Ich schlief schlecht und schilderte das Problem meinem Vater. Der tat etwas sehr Nobles. Er rief meinen Bruder an und fragte ihn, ob er mich nicht begleiten könne, er würde ihm die Reise bezahlen. Das war keine Kleinigkeit, er war ja kein reicher Mann. Der Roland machte mit, und damit waren meine Sorgen ein ganzes Stück kleiner. Er war jung und stark, konnte mit dem Rollstuhl umgehen und hatte alsangehender Medizinstudent auch ein passendes Arztköfferchen zur Hand.
Die Reise war bemerkenswert. Natürlich war Dharamsala nicht für Rollstuhlfahrer gebaut. Aber es ging. Weil früher die Engländer als Kolonialherren dort waren, gab es ein geräumiges altes Gästehaus, in dem ich gut zurechtkam. Dicht unter den siebentausend Meter hohen Himalaja-Riesen warteten wir auf Seine Heiligkeit, den Dalai Lama. Er wurde erst in einigen Tagen von einer Reise zurückerwartet. Wir saßen müßig herum, unrasiert und fern der Heimat. Am dritten Morgen hieß es plötzlich, Seine Heiligkeit sei zurück und würde uns in einer Stunde empfangen. Ich steckte den Rasierapparat in die Steckdose und begann meinen Dreitagebart abzuschaben. Als ich die linke Gesichtshälfte sauber hatte, fiel der Strom aus. Warten konnten wir nicht, also machte ich mich halbrasiert auf den Weg zu meinem ersten Treffen mit dem Oberhaupt der Buddhisten. Ich muss extrem komisch ausgesehen haben, und nach dem Begrüßungszeremoniell sah mich Seine Heiligkeit auch sehr fragend an. Ich habe ihm erklärt, dass das keine neue westliche Mode sei, sondern der Stromversorgung in Dharamsala geschuldet. Er hat lange glucksend gelacht und sich gefreut wie ein kleiner Junge. Der Kameramann, Herr Schrödl, hat mich bei dem Interview so gesetzt, dass nur meine rasierte Gesichtshälfte ins Bild kam. Später habe ich dieses Schulbubenlachen noch öfter beim Dalai Lama gesehen. Es passte zu der herzlichen,
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