Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
»Thomas Mann«, sondern höchst maniriert »T. M.«. Die Last des Elternhauses hat er mir einmal so geschildert: »Allein mit T. M. zu Mittag zu essen war mir geradezu eine Qual. Ich habe mir da immer, schon als Junge und auch später noch, Gesprächsthemen aufgeschrieben … Schweigen war mir entsetzlich in Gegenwart meines Vaters, und ich fühlte mich immer verantwortlich für das Gespräch, dass irgendwelche Worte gewechselt wurden … Wenn ich in einem normalen, gesunden, schlichten Bürgerhaus aufgewachsen wäre, dann, glaube ich, wäre was Besseres aus mir geworden …«
Als ich ihn einmal nach seinem Gemütszustand fragte, hat er mir mit einem Heine-Gedicht geantwortet:
Anfangs wollt ich fast verzagen,
Und ich glaubt, ich trüg es nie;
Und ich hab es doch getragen –
Aber fragt mich nur nicht, wie?
Furore gemacht hat ein Film, den ich über den amerikanischen Neurochirurgen Robert J. White gedreht habe. Er arbeitete am Metropolitan General Hospital in Cleveland/ Ohio und wurde bekannt durch seine Kopftransplantationen an lebenden Menschenaffen. White, ein praktizierender Katholik mit zehn Kindern, war ein angesehener Wissenschaftler, der mit diesen Kopfverpflanzungen vor allem neurologische Grundlagenforschung trieb. Aber er hatte auch Vergnügen am Show Business und erklärte jedem Journalisten, der es hören wollte, dass er diese Operationen demnächst auch an Menschen durchführen würde. Das Szenario, das er dafür entwarf, war nicht völlig abwegig: Im Zimmer 235 seines Hospitals liege ein Patient. Lehrer, sechsundvierzig Jahre, Diagnose Leberkrebs. Seine Überlebenschance sei gleich null. Die Operation sei zu spät gekommen. Der Körper sei voller Metastasen. Gesund an dem Mann sei nur noch sein Kopf. Drei Stockwerke höher liege ein junger Mann, der ebenfalls keine Chance mehr habe. Verkehrsunfall. Sein Kopf sei mit solcher Wucht gegen die Windschutzscheibe geprallt, dass sich Knochenteile und Glassplitter tief in sein Gehirn gebohrt hätten. Kein Chirurg der Welt könne den Zweiundzwanzigjährigen mehr retten.
Tausende solcher todgeweihten Patienten, so White, lägen weltweit in den Kliniken. Niemand würde ihnen helfen – obwohl es dazu eine Möglichkeit gebe: eben
die Kopftransplantation. Man würde den gesunden Kopf des einen Patienten auf den gesunden Körper des anderen Patienten verpflanzen. Der Kopf könnte auf
diese Weise mit dem fremden Körper als »power packet« weiterleben. Zwar als hoher Querschnitt, aber das gäbe es ja sonst auch. Diese Vision hat White den
schönen Titel »Frankenstein von Ohio« eingetragen. Das Thema eignete sich gut, um die Möglichkeiten und Grenzen der modernen Medizin grundsätzlich
darzustellen. Ich habe meinen Film, der eine solche Kopftransplantation bei Affen erstmals zeigte, deswegen »Robert J. White oder die Grenzen der
Forschung« genannt. Er lief in der ARD, danach wurde ich sogar »Stern«-Autor. Unter dem Titel »Ein neuer Kopf für W5« brachte das Magazin eine große Reportage über die spektakulären White-Operationen. »Todkranke hoffen auf einen Eingriff, der eines der letzten Tabus der modernen Medizin brechen würde«, war der Tenor. Das Thema hat damals zu leidenschaftlichenDiskussionen geführt. Jürgen Dahl druckte mein Drehbuch in den »Scheidewegen« ab, der von Friedrich Georg Jünger und Max Himmelheber gegründeten »Jahresschrift für skeptisches Denken«, und schrieb dazu:
»Der Film dokumentiert die Überschreitung einer Grenze, jenseits derer dem Wahn des Machens nicht mehr mit Erörterungen irgendwelcher Art begegnet werden kann, sondern nur noch mit sprachlosem Entsetzen und mit einer Verachtung, die es nicht nötig hat, nach Argumenten zu ihrer Rechtfertigung zu suchen … Das andere, was dieses Drehbuch dokumentiert, ist die fröhliche Unbefangenheit, der naive Stolz, der die Akteure dieser Tragödie beseelt: Sie nähen am Leichentuch der Menschheit, aber sie sind guter Stimmung dabei – jedenfalls solange die Nähte halten und die Affen noch atmen. Die Diskrepanz zwischen dem Grauen der Tat und der Fröhlichkeit der Täter ist nicht auf das Gebiet der Kopftransplantation beschränkt, und selbst der Vertreter einer Moraltheologie, welche die Kohabitation Unverheirateter beharrlich als Verletzung der Heiligkeit der Ehe verpönt, wagt hier aus lauter Furcht, er könnte sich vor dem Fortschritt blamieren, kein Widerwort, das irgendetwas Heiliges in Erinnerung brächte. Auch dies ein Dokument. Ein Dokument der
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