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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Reiter
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naiven Art, mit der er durch die Welt ging und – wenn auch ohne großen Erfolg – seine Friedensbotschaft verkündete. Auch in unserer Sendung hat er außer »peace« nicht sehr viel zum Wesen der Meditation gesagt.
    Ganz anders Carl Friedrich von Weizsäcker. Er hatte zwar zunächst Bedenken, überhaupt etwas dazu zu sagen. »Man kann einem Blinden auch nicht erklären, was Gelb ist«,meinte er. Aber dann brachte ich ihn doch dazu. Was er gesagt hat, war das Klügste, das ich zum Thema Meditation je gehört und gelesen habe. Ich zitiere ein paar Sätze: »Die Wissenschaft arbeitet begrifflich, und der Begriff beruht auf der Unterscheidung und der überwölbenden Zusammenfassung. Wenn ich sage: ›Dieses Tier ist eine Katze‹, dann habe ich es unterschieden von Hunden, von Vögeln und allem; aber ich habe es zusammengefasst mit allen Katzen. Diese Methode, mit dem Begriff die Wirklichkeit zu zerschneiden und das Zerschnittene wieder zusammenzufassen, scheint mir hinter dem ganzen wissenschaftlichen Verfahren zu stehen, während die Schulung, die wir mit dem Wort ›Meditation‹ bezeichnen, im Grunde eine Schulung zu einem anderen Verhalten ist, einem Verhalten, das nicht mit dem Zerschneiden beginnt, um dann wieder zusammenzusetzen, sondern das mit dem Geltenlassen des Unzerschnittenen beginnt.«
    Weizsäcker hat das Gespräch, das ich mit ihm dazu geführt habe, später in sein Buch »Der Garten des Menschlichen« aufgenommen und mir ein Exemplar geschickt. Als Widmung hat er hineingeschrieben: »Udo Reiter, dem besten Frager«.
    Ein Thema, das mich mein Leben lang interessiert hat, ist Geschichte. Vor allem die mittelalterliche, aber nicht nur. 1977 habe ich dazu eine Sendereihe in Auftrag gegeben, an der einige bedeutende Historiker mitgearbeitet haben. Unter dem Titel »… keiner, dem Geschichte nicht etwas Wichtiges zu sagen hätte« (einem Schiller-Zitat) brachte ich Autoren wie Hans Maier, Horst Fuhrmann, Hellmut Diwald, Golo Mann und Theodor Schieder zusammen. Es wurde ein Panorama der deutschen Geschichte vom Mittelalter über die Reformationszeit und den Absolutismus bis zu »Nationalismus und Imperialismus«. Die Sendungensind auch als Taschenbuch in der Serie Piper erschienen und haben mir vor allem einen persönlichen Kontakt zu Golo Mann eingetragen, der sich noch in weiteren gemeinsamen Projekten niederschlagen sollte. Zunächst drehte ich zu seinem siebzigsten Geburtstag am 27. März 1979 ein Fernsehporträt über ihn: »Ich schere mich den Teufel um rechts und links …« Später habe ich ein langes Radiointerview mit ihm gemacht (»Ich hoffe, ein redlicher Intellektueller zu sein …«) und 1984 nochmals ein einstündiges Fernsehgespräch. Er war ein eindrucksvoller Mann: klug, wortgewaltig, gebildet. Er konnte über zweihundert Gedichte auswendig, darunter fast alle von Heinrich Heine, und trug sie, wenn er guter Laune war, gern mit lebhaftem Pathos vor. Von solchen literarischen Einlagen abgesehen, wirkte er aber merkwürdig gehemmt, oft mit einem geschmerzten Gesichtsausdruck und einem nervösen Zucken um den rechten Mundwinkel. Ich erinnere mich an einen Telefonanruf bei ihm, den ich mit der Floskel »Störe ich Sie gerade?« einleitete. Er antwortete seufzend: »Ach, man stört immer.«
    Die Diagnose, dass er durch den übermächtigen und herrischen Vater seelisch beschädigt wurde, ist naheliegend und wurde auch von ihm selbst mehrfach bestätigt. Im veröffentlichten und viel zitierten Tagebuch des Vaters über sich selbst lesen zu müssen, man sei »problematischer Natur, verlogen, unreinlich und hysterisch«, ist sicher für das eigene Selbstwertgefühl nicht besonders förderlich.
    So lebte er noch in hohem Alter unerlöst und allein im Schatten seiner Eltern. Ich werde die gruselige Szene nie vergessen, wie wir in seinem Haus in Kilchberg am Zürichsee saßen. Plötzlich wird im Zimmer über uns mit einem Stock hart auf den Boden gepocht. Golo Mann, über siebzigjährig, richtet sich erschrocken in seinem Sessel auf, deutet an die Decke und flüstert: »Hören Sie, die Alte!« Eswar Katia Mann, seine neunzigjährige Mutter, die ihn mit dem Stock nach oben zitierte. Golos Berufswahl hatte sie einmal mit dem klassischen Satz kommentiert: »Historiker geht ja noch.« Auf dem Türschild an der Haustür des Kilchberger Mann-Hauses stand übrigens »Thomas Mann«. Der war damals schon über zwanzig Jahre tot. Wenn er von ihm sprach, nannte ihn Golo Mann nicht »meinen Vater«, auch nicht

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