Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Reiter
Vom Netzwerk:
beschäftigen. Ob ich einverstanden sei? Und ob ich einverstanden war!
    Als erste Aufgabe bekam ich im Sekretariat einen Karton mit Tonbandspulen in die Hand gedrückt. Das seien Diskussionen über den Medizinbetrieb, die demnächst
     ins Programm kommen sollten. Die müssten geschnitten werden. Der Schneideraum der Wissenschaftsredaktion sei im siebten Stock, hieße TM 13 und stehe jeden
     Tag zwischen 14 und 16 Uhr zur Verfügung. Aha. Ich bemühte mich um einen verständnisvollen Gesichtsausdruck und zog mich wieder in mein »Büro«
     zurück. Schneiden? Was und warum denn schneiden? Ich war ratlos. Am nächsten Tag rollte ich zur angegebenen Zeit mit meinem Kartonin den TM 13 und
     versuchte, ohne einen allzu blöden Eindruck zu machen, aus der Technikerin, die dort arbeitete, herauszubekommen, was denn da geschnitten werden
     könnte. Sie sah mich etwas verwundert an und gab mir dann einen Grundkurs in Tonbandbearbeitung: die Spulen müssen kopiert werden, dann wird in der Tat
     mit einer Schere in das Sendeband hineingeschnitten, Versprecher werden entfernt, Längen und Schwachstellen herausgenommen, das Tonband mit weißem
     Klebstreifen wieder verklebt, bis am Ende eine saubere sendbare Version in richtiger Länge auf dem Teller liegt. Ich war verblüfft. So hatte ich mir das
     nicht vorgestellt. Es sollte nicht die einzige Verblüffung bleiben.
    Die Wissenschaftsredaktion im Bayerischen Rundfunk hatte eine Sonderstellung. Sie galt als elitär und war vom journalistischen Alltagsgeschäft weitgehend befreit. Man war für das »Höhere« zuständig, und in der Tat gab sich in diesen Räumen die Creme der deutschen Wissenschaft die Klinke in die Hand. Man muss sich das einmal vorstellen: Werner Heisenberg, Konrad Lorenz, Carl Friedrich von Weizsäcker, Ernst Bloch, Karl von Frisch, Golo Mann, Adolf Portmann, Manès Sperber, sie alle gingen in Gustava Möslers Büro ein und aus und schrieben für sie. Ihr war Konrad Lorenz’ berühmtes Buch »Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit« zu verdanken. Es ist 1973 erschienen und basierte auf einer Vortragsreihe im Bayerischen Rundfunk, zu der sie den gegenüber Medien eher spröden Lorenz zwei Jahre zuvor verführt hatte.
    Das intellektuelle Klima in dieser Redaktion war für mich als blutigen Anfänger unglaublich eindrucksvoll. Da war Willy Hochkeppel, ein »fester freier Mitarbeiter« mit dem Spezialgebiet Philosophie und Intelligenzforschung, gescheit, witzig, zynisch, der mich, inzwischen über achtzigjährig, mit seiner jungen Frau gerade erst in Leipzig besucht hat. Da war Leonhard Reinisch, der Chef des Nachtstudios,das eng mit der Wissenschaftsredaktion verzahnt war, ein Alkoholiker, der sich zum heiligen Trinker stilisierte und der als vertriebener Sudetendeutscher die Kontakte zu Osteuropa pflegte. Da war Ulrich Dibelius, ein immer ernst dreinblickender Musikkritiker, dessen Sohn Alexander später Deutschland-Chef der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs wurde. Da war Werner Büdeler, einer der ersten Weltraumjournalisten, der die Mondflüge und ähnliche Aktionen ins Programm brachte und hochjubelte. Und über allen: Gustava Mösler, klug, kritisch, mit einem gnadenlos scharfen Urteil. Sie gehörte zu jener Journalistengeneration, die sich nach Diktatur und Krieg mit großem pädagogischem Engagement dem demokratischen Neubeginn in Deutschland verschrieben hatte. Freiheit und Aufklärung waren die Leitbegriffe ihrer publizistischen Arbeit, als sie Anfang der fünfziger Jahre unter Gerhard Szczesny im »Sonderprogramm« des Bayerischen Rundfunks ihre journalistische Laufbahn begann. In ihrem Engagement für die Aufklärung war sie kaum zu bremsen. Als der Philosoph und Meditationslehrer Carl Friedrich von Weizsäcker uns in einem Gespräch in seinem Haus am Starnberger See einmal die tiefe Wahrheit der Meditation erläutern wollte, hat sie ihn sofort aufgefordert, diese Wahrheit doch zu verbreiten, natürlich in ihrem Programm. »Wenn es so eine wichtige Wahrheit ist«, sagte sie zu ihm, »dann muss man sie doch propagieren!« Der leicht pikierte Weizsäcker, der Journalisten ohnehin nicht leiden konnte, antwortete kühl: »Gnädige Frau, die Wahrheit kann man nicht propagieren.« Das hat ihr gar nicht gefallen. Sie sagte zwar nichts, aber auf dem Heimweg hörte ich sie murmeln: »So ein Unsinn. Natürlich kann man.«
    Zwei Jahrzehnte später, als der große kritische Ansatz der Aufklärung unter dem Schlagwort eines angeblich

Weitere Kostenlose Bücher