Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
»kritischen Journalismus« zu einer schlecht gelaunten Nörgeleian allem und jedem verkam, gehörte Gustava Mösler zu den wenigen, die sich dieser Entwicklung widersetzten. In vielen internen Diskussionen und vor allem in ihrem Programm brach sie damals eine Lanze für Vernunft, Augenmaß und die alten bürgerlichen Tugenden. Dieser scheinbare Frontwechsel von links nach rechts war typisch für sie. Sie ließ sich für kein Lager vereinnahmen. Unabhängigkeit im Denken, im Urteilen und im Entscheiden war für sie das höchste Gut.
Dazu kam ihr unbedingtes Bestehen auf Qualität. Nie werde ich die Bleistiftkringel vergessen, die sie an den Rand meiner Texte machte, wo immer sie etwas
schlecht formuliert oder nicht logisch fand oder der Anschluss nicht stimmte. Und das Schlimme war, sie hatte fast immer recht. Noch heute, dreißig Jahre später, wenn es eine stilistische Entscheidung zu fällen gilt, denke ich manchmal: Ob die Möslerin wohl einen Kringel machen würde?
Sie wurde meine Lehrmeisterin. Sie hat mir den Journalismus beigebracht und mich nicht nur beruflich geprägt. Bei ihr habe ich, das Arbeiterkind aus Rickenbach, Denken, Stil und Haltung gelernt. Sie wurde später auch die Patentante meiner Tochter Franziska Gustava. Ich bin ihr zu großem Dank verpflichtet. Sie lebt heute, zweiundneunzigjährig, in der Nähe von München. Manchmal telefonieren wir und sprechen gerührt über die alten Zeiten.
In diese Redaktion bin ich also dank der Weitsicht von Herrn Dr. Seeberger hineingeraten. Es wurde geraucht, getrunken, diskutiert. Die zahllosen Gespräche über letzte und vorletzte Fragen der Menschheit schlossen nahtlos an die Diskussionsrunden im Studentenheim an, allerdings auf etwas höherem Niveau. Wobei die Mösler, wenn der Diskurs allzu sehr abhob, die Sache mit gelangweilter Trockenheit zu erden verstand. »Wie geht es denn Karola?«, fragte sie dann. Das war die Frau von Ernst Bloch.
»Im Abendstudio hören Sie …«
Nach und nach ließ man mich eigenständige journalistische Arbeiten übernehmen. Zuerst durfte ich Ansagen für die Sendungen von Willy Hochkeppel diktieren: »Im Abendstudio hören Sie nun …« Und dann endlich die erste eigene Sendung. Sie beschäftigte sich, kaum zu glauben, mit Jakob van Hoddis. Es kamen sehr viele Hörerzuschriften aus der Umgebung von Lindau, was man in der Redaktion mit Grinsen zur Kenntnis nahm. Ich hatte etwas plump Reklame für meinen Erstling gemacht und bei sämtlichen Bekannten um Manuskriptanforderung gebeten. Mein erstes Interview führte ich mit Erhard Eppler, der damals Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit war. Ich bereitete mich tagelang vor und fuhr dann, begleitet von meiner Frau, eigens mit dem Auto nach Bonn. Um ganz sicherzugehen, nahm ich, es tut mir sehr leid, eine Captagon-Tablette. Das ist ein inzwischen verbotenes Aufputschmittel, das Mut macht und eine dynamische Stimmung erzeugt. Die Wirkung war verheerend. Ich habe unentwegt geredet. Erhard Eppler kam kaum zu Wort. Nur durch langwierige Schneidearbeit (das hatte ich ja gelernt) ließ sich die Sache noch einigermaßen hinbiegen.
Die erste Sendung, die ich selbst moderieren durfte, war der »Wissenschaftliche Bericht«, eine dreißigminütige Magazinsendung, jeden zweiten Montag um 19.30 Uhr im Abendstudio. Langsam fasste ich Fuß. Die Sendungen wurden länger, die Themen vielfältiger. Hier ein paar Beispiele: »Tod 71. Eine Dokumentation über Problematik und Stellenwert des Todes in der heutigen Gesellschaft«, »Erlösung im Lotussitz? Östliche Meditation als westliche Hoffnung«, »Experimente mit dem sechsten Sinn. Außersinnliche Phänomene und ihre wissenschaftliche Deutung«,»Siegen ist alles. Ideologie und Wirklichkeit des modernen Leistungssports«, »Kann Töten human sein? Medizinische, juristische und theologische Aspekte der Euthanasie«, »Eltern und Pädagogen – ratlos. Erziehung zwischen Drill und Summerhill«.
Das waren spannende Themen, schöne Sendungen. Zu den Privilegien von Gustava Mösler gehörte aber, dass sie nicht nur für die Wissenschaft im Hörfunk zuständig war, sondern auch Fernsehsendungen produzieren konnte. Das hat mich elektrisiert. Ins Fernsehen zu kommen, das wäre ein unübersehbarer Karrieresprung. Ich assistierte Willy Hochkeppel bei einem Film über Hirnforschung und versuchte dort, das Handwerk zu lernen. Dann durfte ich selbst »ran«. Mein erster Film beschäftigte sich mit Konrad Lorenz, ja, der mit den
Weitere Kostenlose Bücher