Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
diesen Beirat. Sie sollten einen Intendanten und die Direktoren wählen und die ersten Schritte des neuen Senders begleiten. Im November sollte diesen Beirat dann der richtige Rundfunkrat mit 43 Mitgliedern ablösen. Vor diesem Rundfunkbeirat musste ich mich am 9. Juli 1991 vorstellen. Ich sah die neun Herren zum ersten Mal. Es war ein gemischtes Gremium, keineswegs nur Gefolgsleute der CDU, wie von einigen Verfolgungstheoretikern in den Medien noch immer kolportiert wird. Ein Probst war darunter, ein Gewerkschafter, ein Schriftsteller. Man tagte im Hotel Merkur in Leipzig, dem heutigen Westin Hotel, im Salon Goethe. Die neun Herren hatten sich darauf geeinigt, nur einen Kandidaten einzuladen, nämlich mich. Wir sahen uns an diesem Tag zum ersten Mal. Eine gewisse Unsicherheit war auf beiden Seiten nicht zu verkennen. Da kam einer aus Bayern mit einem völlig anderen politischen und sozialen Hintergrund und wollte für die Sachsen, Sachsen-Anhalter und Thüringer den Rundfunk machen. Auch dass ich im Rollstuhl saß, hat in dieser Situation wohl eher befremdlich gewirkt. In der DDR war man, was die Integration Behinderter angeht, nicht besonders weit. Rollstuhlfahrer kamen in den Stadtbildern kaum vor. Man war nicht daran gewöhnt, dass sie eine öffentliche Rolle spielten.
Ich stellte mich vor, erläuterte auch meine Behinderung und die Möglichkeiten, die ein Rollstuhlfahrer heute hat, und erzählte dann, wie ich mir den
Aufbau des neuen Senders und sein Programmangebot vorstellte. Ich machte klar, dass ich auf keinen Fall einen Besatzungssender installieren wolle, der den
Menschen ein fremdes Programm überstülpt, sondern einen Heimatsender, der auf die Bedürfnisse und Erfahrungen der hiesigen Bevölkerung eingeht. Das war
nicht nur dahingesagt, sondern meine feste Absicht, und so haben wir den MDR dann ja auch ausgerichtet. Man stellte Fragen und wunderte sich, dass ich doch einiges über die DDR wusste. Am Ende wurde gewählt. Ich bekam in geheimer Abstimmung alle neun Stimmen. Nun war ich ordentlich bestellter Gründungsintendant des Mitteldeutschen Rundfunks und gleichzeitig der erste und einzige Angestellte des neuen Senders.
Ein dreifaches Dilemma
Für meine Freunde und Kollegen an dieser Stelle eine Warnung: Überschlagt das kommende Kapitel lieber. Es sind die alten Geschichten, die ich schon so oft erzählt habe wie mein Großvater seine Erlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg. Ihr kennt diese Geschichten auswendig, aber sie gehören nun einmal zu meinem Leben und dürfen hier nicht fehlen. Natürlich kann man fragen, und ich stelle mir diese Frage selbst gelegentlich, ob das alles wirklich genau so war, wie ich es heute erzähle, oder ob die Geschichten von Jahr zu Jahr dramatischer und schöner werden. Ich kann das nicht mit letzter Entschiedenheit ausschließen. Bei meinem Großvater hatte ich auch manchmal den Verdacht. Aber tendenziell, das schwöre ich, ist es genau so gewesen.
In den Tagen nach der erfolgreichen Wahl ging mir langsam auf, was da auf mich zukam. Es war Juli 1991, und im Staatsvertrag stand, dass der MDR am 1. Januar 1992 mit sechs Hörfunkprogrammen, einem Fernsehprogramm und 12 Prozent Anteil am ARD-Programm auf Sendung gehen sollte. Also in einem knappen halben Jahr. Das Dilemma hatte drei Seiten. Zum einen die Infrastruktur: Es gab keine. Zwar hatten sich in den drei Ländern seit 1989 kleine regionale Radiosender gebildet, neben dem Sachsen-Radio in Leipzig, Radio Sachsen-Anhalt in Halle und Radio Thüringen in Erfurt, aber das war es dann schon. Vor allem Studios und eine Senderegie für das Fernsehen gab es nicht. Auch keine Hörfunkzentrale. Zum zweiten die Finanzen: Der Sender hatte nicht einmal ein Konto, und ich hatte keine Vorstellung, woher Geld kommen sollte und in welcher Höhe. Und drittens das Personal: Ich war ein knappes halbes Jahr vor Sendebeginn der einzige Angestellte. Größere Einheiten, beispielsweise die Mitarbeiterder regionalen Hörfunksender oder Teile des alten DDR-Rundfunks, durfte ich nicht einstellen. Das wäre ein Betriebsübergang gewesen und hätte zur Folge gehabt, dass ich sämtliche siebentausend Mitarbeiter des Deutschen Fernsehfunkes hätte übernehmen müssen.
Als ich mit meinen Kollegen in München die Sache besprach, war ihr Urteil eindeutig: Der Sendebeginn muss verschoben werden, mindestens um ein halbes, am besten um ein ganzes Jahr. »Eine neue Fernsehsendestraße«, sagte mir Wolf Feller, der als TV-Direktor etwas von der
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