Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Juni, dem »Tag der deutschen Einheit«,
schreiben musste. »Komm, Reiter, du glaubst doch daran«, hieß es in der Redaktionskonferenz. Den Kommentar von 1983 habe ich aufgehoben. Damals habe ich
kritisiert, dass der Tag von den Westdeutschen zwar immer noch gern als zusätzlicher Feiertag mitgenommen würde, dass es aber »an einem angemessenen
Vollzug des Gedenktags nur noch wenig Interesse gebe«. Man habe sich mit dem neuen Wohlleben im Westen arrangiert, und als in den siebziger Jahren die
sogenannte Entspannungspolitik begann, seien nationale Sehnsüchte geradezu genierlich geworden. Nationale Empfindungen hatten keine Konjunktur, waren
politisch und gesellschaftlichout. Dass ich mich als junger Journalist dazu bekannte, war ungewöhnlich. Im Gegensatz zu manch anderem kann man mir in diesem Fall auch nicht unterstellen, dass ich es kalkuliert aus Karriereüberlegungen getan hätte. So etwas war nicht einmal im Bayerischen Rundfunk gefragt. Im Gegenteil, gerade in Bayern achtete man ja schon immer sehr auf Eigenständigkeit und stand gesamtdeutschen Bestrebungen eher zurückhaltend gegenüber. Das hatte schon unter Herzog Tassilo begonnen, der sich im 8. Jahrhundert gegen Karl den Großen stellte. Zweihundert Jahre später versuchte es Heinrich der Zänker gegen Kaiser Otto II. ebenso erfolglos wie nochmals zweihundert Jahre später Heinrich der Löwe gegen Friedrich Barbarossa. Auch 1871 ließen sich die Bayern nur widerstrebend ins Bismarck-Reich integrieren, und 1949 stimmten sie als einziges Land, Pardon! Freistaat, gegen das neue föderale Grundgesetz. Insofern war es zumindest historisch konsequent, dass sich auch 1991 die bayerische Begeisterung über die Wiedervereinigung in Grenzen hielt. Ich habe mich davon aber nicht beirren lassen und tapfer im Bayerischen Rundfunk das Fähnchen der nationalen Einheit hochgehalten. Weil die Thematik in meiner Biographie eine wichtige Rolle spielt, darf ich die Fortsetzung des damaligen Kommentars etwas ausführlicher zitieren:
»Ich glaube, verehrte Hörer, dass auch hier der Missbrauch einer Sache kein Argument gegen die Sache selber ist. Und ich fürchte, dass die gängigen Formeln von der Überwindung nationaler Beschränktheiten, die wohlfeilen Bekenntnisse zu Europa und die gut gemeinten Engagements in pazifistischen Bewegungen die Probleme nur verdrängen oder verdecken … Schon ein flüchtiger Blick auf die Weltkarte zeigt, dass der Nationalstaat nach wie vor das dominierende politische Organisationsprinzip ist. Andere Kategorien sind im Ernst nirgends in Sicht, und solltensie je auftauchen, müssten sie sich erst einmal an den Leistungen des Nationalstaats messen lassen: Er brachte zumindest innenpolitisch das Ende von Fehde und Faustrecht, vom Krieg aller gegen alle, er schuf die Voraussetzung für das Entstehen moderner demokratischer Gesellschaften und wurde summa summarum zu einem konkurrenzlosen und weltweit kopierten Modell für die Verwirklichung politischer Stabilität bei gleichzeitigem Spielraum für Recht, Freiheit und soziale Sicherheit … Die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung ist daher auch keine reaktionäre Parole, sondern ein Grundrecht, das auch von der Uno, den Vereinten »Nationen« (!), als unverzichtbar anerkannt wird. Und von den großen, historisch gewachsenen Nationen dieser Welt sind wir derzeit die einzige, der dieses Grundrecht total verwehrt ist, die mit den Mitteln blanker militärischer Macht und diktatorischen Terrors in zwei Staaten getrennt gehalten wird.
Soll dies, verehrte Hörer, für immer so bleiben? Sollen wir uns tatsächlich resigniert und träge mit der nationalen Katastrophe von 1945 abfinden? … Wenn man weiß, wie lange und mühsam der Weg zu einem deutschen Nationalstaat schon einmal war, wenn man die generationenalten Klagen und Sehnsüchte einmal nachliest, von Luther bis herauf zur Paulskirche, wenn man die Schicksale anderer Völker betrachtet, der Polen z. B., die fast zweihundert Jahre lang geteilt und aufgeteilt waren – dann mutet einen unsere Verzagtheit und Gleichgültigkeit nach nicht einmal vierzig Jahren schon arg kleinmütig an. Wo steht denn geschrieben, wie viele Jahrzehnte das russische Imperium überdauern wird? Wer will denn so genau wissen, welche Zukunft die beiden großen Militärallianzen tatsächlich haben werden? Hier sind langfristig viele Fragen offen. Noch ist die nationale Einheit Deutschlands nicht verloren. An uns ist es, den Willen dazu wachzuhaltenund die
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