Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Hoffnung darauf weiterzugeben. Ein Gedenktag im Jahr scheint mir dafür keine unerträgliche Anstrengung.«
Ich finde, das war ein ziemlich weitsichtiger Kommentar, und zwar zu einer Zeit, als dies kaum jemand sagte und dachte. Als es entgegen jeder Wahrscheinlichkeit und entgegen der klugen Prognosen fast aller politischen Journalisten 1989 in einem unglaublichen Aufbruch tatsächlich zur deutschen Einheit kam, war ich sehr bewegt. Ich bin nach der Maueröffnung hinauf nach Hof an die »Zonengrenze« gefahren und habe zugesehen, wie auf einer provisorisch angelegten Straße die Trabis und Wartburgs in einer nicht enden wollenden Schlange aus dem Nebel auftauchten und zu ihrem ersten Besuch westwärts nach Bayern rollten. Die Menschen haben einander zugewinkt, viele weinten. Es war ein großes Glücksgefühl, und ich bedauere, dass wir uns diese historische Sternstunde so schnell durch Alltagswidrigkeiten haben verderben lassen.
Wir Münchner bekamen nachbarschaftlichen Kontakt zum neu gegründeten Sachsen-Radio in Leipzig. Dort hatten junge ostdeutsche Journalisten die Chance genutzt
und seit Mitte 1990 auf einer UKW-Frequenz von Radio DDR handstreichartig ein neues Programm aufgebaut, in dem mit großer Begeisterung die politische
Wende begleitet wurde. Sie besuchten den Bayerischen Rundfunk und baten um Unterstützung. Wir organisierten einen Programmaustausch und kamen erstmals zum
Gegenbesuch nach Leipzig. Manfred Müller, der damalige Chef des Funkhauses in der Springerstraße, lud uns in die Gosenschenke ein, wo ich zum ersten Mal
die Leipziger Gose, ein obergäriges Sauerbier, probiert habe. Dass ich es in den kommenden Jahren regelmäßig trinken würde, war in jenen Tagen noch nicht
abzusehen. Die Existenz des neuen Sachsen-Radios stand auf wackligen Beinen und war ständig von der »Abschaltung«durch die nach Rudolf Mühlfenzl benannte
Behörde in Berlin bedroht, die mit der Abwicklung des DDR-Rundfunks beauftragt war. Manfred Müller versuchte dem zu entgehen, indem er mit dem
Saarländischen Rundfunk und Radio France einen Kooperationsvertrag schloss. Jeden Freitag lief in »grenzüberschreitender Gemeinschaftsarbeit« von 20.05
Uhr bis 23.00 in allen drei Ländern die Sendung »Konzertsaal Europa«. Das war ein geschickter Schachzug und hat dem Programm das Überleben bis zum Start
des MDR gesichert, aber für Müller selbst hatte es üble Folgen. Rudolf Mühlfenzl ließ sich die Eigenmächtigkeit nicht gefallen und hat ihn entlassen.
Am 14. Oktober 1990 hatte die CDU die erste Landtagswahl in Sachsen mit 53,8 Prozent gewonnen. Spitzenkandidat war Kurt Biedenkopf, der daraufhin
Ministerpräsident des Freistaats Sachsen wurde. Justus Frantz war mit Kurt und Ingrid Biedenkopf befreundet und fragte mich, ob ich nicht zu einem Besuch
in das Biedenkopf’sche Haus am Chiemsee mitkommen wolle. Man wisse ja nie … Ich war elektrisiert. Von einem Mann in dieser Position, der schon 1990 eine
Gastprofessur in Leipzig übernommen hatte, aus erster Hand etwas über die politischen Vorgänge in der DDR zu erfahren, das war eine ungewöhnliche Gelegenheit. Der Nachmittag am Chiemsee ist dann leider ziemlich missglückt. Wir kamen auf die Medien zu sprechen, und Kurt Biedenkopf äußerte sich kritisch zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, den er damals als Teil einer überbordenden kollektiven »Daseinsvorsorge« eher skeptisch sah und eingegrenzt wissen wollte. Er tat das, wie man es von ihm kennt, mit rhetorischer Brillanz, was mich anspornte, unser System besonders vehement zu verteidigen. Die Sache schaukelte sich hoch, und Justus Frantz meinte auf dem Heimweg nur: »Das war wohl nichts.«
Im Frühjahr 1991 bekam ich einen Anruf aus Dresden.Ob ich nicht einmal im Landtag vorbeischauen könnte, man möchte gerne einige Rundfunkfragen mit mir
besprechen. Ich habe mir nichts dabei gedacht, die Kontakte mit Sachsenradio waren schon fast Routine geworden, um dessen Zukunft würde es vermutlich
gehen. Mit Ulrich Wagner-Grey, inzwischen Chef des Hörfunk-Direktorenbüros, fuhr ich nach Dresden. Was jetzt kam, gehört zu den unvergesslichen
Ereignissen in meinem Leben. Ein Pförtner brachte mich in ein leeres Besprechungszimmer. Es war zwanzig vor fünf. Die Tür ging auf, ein kleiner Mann mit
rotem Gesicht und Bürstenhaarschnitt kam eilig herein und stellte sich vor: »Herbert Goliasch, Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion.« Er sei leider sehr unter Zeitdruck, er müsse um 17 Uhr
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