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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Reiter
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verurteilt«, schrieb die Bild-Zeitung. Bundesweit, zum Vergnügen der ARD-Kollegen.
    Meine guten Erfahrungen mit unseren neuen Landsleuten haben sich nicht auf Herrn Pinkert beschränkt. Sie waren rundum positiv. Das fing bei Äußerlichkeiten an. Man war hier freundlicher im Umgang miteinander, als ich das aus dem Westen gewohnt war. Wenn man sich beim Spazierengehen begegnete, grüßte man sich. Wenn sich auf der Straße einer einfädeln wollte, der nicht die Vorfahrt hatte, winkte man ihn herein. Wenn man am Morgen ins Büro kam, gab man sich die Hand. Gut, wenn schon, mag man sagen, Äußerlichkeiten. Aber das war es nicht allein. Hilfsbereitschaft war hier selbstverständlicher als bei uns. Unter Nachbarn, unter Kollegen, man half sich, wenn jemand Hilfe brauchte, und zwar ohne viel Aufhebens, einfach so. Auch die Frauen schienen mir »hilfsbereiter«. Natürlich waren auch in Bayern die Damen zu Ausflügen bereit, natürlich gab es auch dort überall Amouren, aber es hatte meist die Aura des Unerlaubten, Verklemmten, während mir hier der Umgang der Frauen mit den Männern freier, selbstverständlicher, souveräner vorkam. Bevor ich mich jetzt um Kopf und Kragen schreibe, will ich es bei diesen Andeutungen belassen. Mag ja sein, dass mein Eindruck ganz falsch und atypisch war.
    Jedenfalls wurden die Wessis – damals – mit offenen Armen aufgenommen. Mit zu offenen, dachte ich mir bald. Es gingen ja nicht nur die Besten in den Osten. Im Gegenteil. Es wimmelte bald von windigen Figuren, die die Unerfahrenheit der Ostdeutschen mit den neuen Spielregeln schamlos ausnutzten, die ihnen alte Autos und überflüssige Versicherungen andrehten und ihnen Antiquitäten und Grundstücke zu Schandpreisen abluchsten. Dabei gaben sie großkotzig und laut die neuen Herren. Ich habe mich oft geschämt, wenn ich dieses Gesindel sah. Dazu kamen andere Auftritte, die zwar korrekt waren, aber eine verheerende Wirkung hinterließen. Ich hatte die Straße des 18. Oktober mit ihrem unzuverlässigen Lift hinter mir gelassen und mich, nach einer Zwischenstation in Sehlis, in Gottscheina, einem kleinen Dorf am Nordostrand von Leipzig, niedergelassen. Das Nachbarhaus war die ehemalige Dorfschänke. »Zum deutschen Kaiser« konnte man noch in verblassten Buchstaben an der Hauswand entziffern. Dort wohnte seit vielen Jahren ein älteres Ehepaar, das im Lauf der Zeit das Haus für seine Bedürfnisse umgebaut und außen herum einen schönen Garten angelegt hatte. Eines Tages stand ein Mercedes mit Bielefelder Kennzeichen vor dem Haus. Man ahnt, wie es weitergeht. Es waren die Kinder der ehemaligen Besitzer, und im Einigungsvertrag stand eindeutig: Rückgabe vor Entschädigung. Dieser Grundsatz mag juristisch vernünftig gewesen sein, psychologisch und moralisch war er verheerend. Meine Nachbarn zitterten vor Erregung, das ganze Dorf war wütend. So hatte man sich die Wiedervereinigung nicht vorgestellt. Ähnliches ereignete sich landauf, landab. Es war zu spüren, wie sich die Stimmung langsam gegen die westlichen »Besatzer« wendete. Damals kamen auch die ersten Anti-Wessi-Witze und Sprüche auf: »Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist es andersrum.«
    Man muss diesen Ärger vor dem Hintergrund der enormen Anpassungsleistung sehen, die den Ostdeutschen damals abverlangt wurde. Im Westen hat man sich davon nie eine richtige Vorstellung gemacht. Alle Regeln, die in der DDR ein Leben lang gegolten hatten, waren mit einem Schlag außer Kraft. Alle Erfahrungen galten von heute aufmorgen nicht mehr. Lebensentwürfe lösten sich in nichts auf. Fremde Leute saßen an den Schaltstellen, bestimmten den Kurs und urteilten über Dinge, von denen sie meist nicht viel verstanden. Das alles haben die ehemaligen DDR-Bürger mit einer erstaunlichen Leidensfähigkeit bewältigt – natürlich in der Hoffnung auf ein neues besseres Leben, auf Freiheit und Wohlstand. Umso bitterer war es, wenn diese Hoffnungen enttäuscht wurden.
    Ein besonderes Gespür für diese kippende Stimmung entwickelte Franz Josef Wagner, der damals im Auftrag des Burda Verlags mit finanzieller Beteiligung von Rupert Murdoch eine Boulevard-Zeitung für den Osten entwickelte. »Super!« startete am 2. Mai 1991 und erschien schon am zweiten Tag mit einer Schlagzeile, die berühmt wurde: »Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen – Ganz Bernau ist glücklich, dass er tot ist.« Das war nichts für den Pulitzer-Preis, und maßlos übertrieben, aber es traf einen

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