Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
meinte: »Das war nicht meine Mutter, das war meine Großmutter.«
Kurzum: die Sache wird unabweisbar. Die Fingernägel werden brüchig, die Haare dünn wie Spinnweben, an den Ellbogen hängt die Haut herunter. Namen
merken war schon lange ein Problem, aber jetzt wird es ein Desaster. Sogar der Name des Nachbarn im Dorf oder des Verwaltungsratmitglieds aus Sachsen
entfällt einem hin und wieder. Und noch zwei Dinge beobachte ich. Zum einen: der Gestaltungswille wird schwächer. Früher wusste ich stets, was ich will,
und habe das dann auch durchgesetzt. Um fast jeden Preis. Jetzt ertappe ich mich immer öfter dabei, dass mir Sachen gleichgültig werden. Wenn mir einer
etwas zur Entscheidung vorträgt, entscheide ich nach wie vor – aber innerlich denke ich, mach es so oder anders, es ist ohnehin egal. Zum andern: das
erotische Interesse, ein zuverlässiger Indikator der Vitalität, wird brüchiger. Ein bekannter ARD-Mann hat mir einmal erzählt, er habe gewusst, dass er
alt wird, als es ihm zu viel war, für ein vielversprechendes Rendezvous zwanzig Minuten in die Stadt und hinterher wieder nach Hause zu fahren. Mir
passierte es immer öfter, dass ich bei einer diesbezüglichen Absage, die mich früher gequält oder geärgert hätte, im tiefsten Innern erleichtert war und
mich auf einen Abend mit Rotwein, Zigarre und Fernsehen gefreut habe. Auch die andere Seite gibt es natürlich. Das Gefühl, für Frauen nicht mehr anziehend
zu sein und in der Trostlosigkeit der eigenen Altmännerwelt zu versinken. Der in diesen Dingen überaus erfahrene Gottfried Benn hat das in einem Brief an
Oelze gewohnt treffsicher beschrieben. Er bemerkte, »dasses einen sehr berührt, wenn man als alter Mann überhaupt noch auf ein inneres Entgegenkommen bei reizvollen jungen Frauen stößt, auf eine Berührung der Sphären, … die einen für eine Weile fortführt von Erstarrung, Müdigkeit, Fettwerden, Ranzigwerden«.
Natürlich ist das alles nach außen hin nicht so offenkundig. Man kämpft ja auch dagegen an. Die Haare sehen mit Conditioner noch ganz ordentlich aus, die Ellbogen braucht man nicht zu zeigen, und wenn einem der Name des Gegenübers nicht einfällt, sagt man »gnädige Frau« oder »Herr Präsident«. Auch das charmante Auftreten funktioniert noch einigermaßen. Obwohl, wenn ich bei anderen Herren meines Alters sehe, wie sie vor jungen Mädchen den Gockel geben und diese Mädchen verwundert schauen, weil sie nicht recht wissen, was der Opa denn will, dann nehme ich mir fest vor, die Lektion möglichst schnell zu lernen. Die junge Brigitte Reimann hat in ihren Tagebüchern einen Fünfzigjährigen (!) beschrieben, der ihr den Hof machte. Ihre Anmerkung werde ich nicht vergessen: »Was glaubt der eigentlich?«
Es gibt Redensarten und Beispiele, mit denen man versuchen kann, das Grauen des Altwerdens feuilletonistisch zu entschärfen. »Die alten Geigen klingen oft am schönsten«, kann man launig feststellen. Auch dass »der Herbst noch schöne Tage« hat oder »die späten Rosen oft am schönsten blühen«, wird gern genommen. Man kann auch »Best-Ager« sagen statt alter Sack oder, wenn man es eine Nummer gebildeter will, auf Knut Hamsun verweisen. Der hat zwar geschrieben, »wenn man fünfzig ist, beginnen die Siebziger, das ist das Alter, in dem der Geist verblüht«. Aber danach hat er Marie Andersen geheiratet, vier Kinder bekommen, dreizehn Bücher geschrieben und den Literaturnobelpreis erhalten. Das wird von älteren Menschen gern gehört.
Als diese Thematikmich zunehmend beschäftigte, habe ich Gunter Sachs, der genau zehn Jahre älter war als ich, einmal gefragt, wie er mit dem Altern fertig werde. Als ehemaligem Playboy müsse ihm das doch besonders zusetzen. »Ja«, sagte er, »genau das habe ich kürzlich meinen Freund Giovanni Agnelli gefragt, der ist nochmal zehn Jahre älter. Er sagte mir, Gunter, man muss das Positive daran sehen. Du stehst heute über den Dingen, musst dich nicht mehr über alles aufregen, bist gelassener und freier und kannst ernten, was du gesät hast. Und, Gunter, ich sage dir: Das ist alles Scheiße!« Dem habe ich, sagte Gunter Sachs zu mir, nichts hinzuzufügen. Mir fällt auch nichts anderes ein. Und wer meint, man könne doch etwas hinzufügen, es gebe bei einigem guten Willen doch auch positive Aspekte des Älterwerdens, dem kann ich nur einen klugen Satz von Siegfried Lenz entgegenhalten. »Die Wahrheit der zerrinnenden Zeit«, sagte der einmal, »widerlegt
Weitere Kostenlose Bücher