Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
alle Entwürfe des Alters.«
Dass das Altwerden für Rollstuhlfahrer besondere Probleme birgt, liegt auf der Hand. Mir persönlich geht es zur Zeit ungewöhnlich gut. Ich genieße
meine neue Freiheit. Aber um zu wissen, was mir bevorsteht, brauche ich kein Prophet zu sein. Wenn die Kräfte nachlassen, wenn es schwieriger wird,
eigenhändig vom Rollstuhl ins Auto, ins Bett, aufs Klo zu kommen, dann zeichnet sich am Horizont die letzte Etappe ab: Man wird über kurz oder lang, wohl
oder übel – ein Pflegefall. Jörg Hammer, mein ärztlicher Freund, sagte zu mir: »Das Wunder ist nicht, dass du einmal ein Pflegefall wirst, das Wunder
ist, dass du so lange keiner warst.« Gunter Sachs kann ich heute nicht mehr fragen, was er davon hält. Er hat die Antwort schon gegeben.
Zwischen Innovation und Korruption
Aber ganz so weit sind wir noch nicht. 2009 hatte ich gerade gut gelaunt meine vierte Amtszeit begonnen. Neben der Digitalisierung bewegten mich damals noch zwei andere Themen: Das erste war der zunehmende Sparzwang. Er war beim MDR stärker als bei anderen Sendern, weil unsere drei Länder Jahr für Jahr durch Abwanderung an die 70 000 Einwohner verloren, und das waren ja auch Gebührenzahler, und weil gleichzeitig die Befreiungsquote aus sozialen Gründen ständig anstieg. Diese Befreiungen haben allein 2010 bei uns zu einem Gebührenausfall von rund 80 Millionen Euro geführt. Wir hatten mit einer »Agenda 2008« schon alle Strukturen und Prozesse im Haus auf Einsparmöglichkeiten durchforstet. Das hatte rund 100 Millionen Euro gebracht. Für die Gebührenperiode von 2011 bis 2016 haben wir dann ein weiteres Sparpaket geschnürt, das kumuliert nochmals runde 115 Millionen bringen wird.
Mir war klar, dass ein derart kontinuierliches Sparen auf Dauer keine Lösung sein konnte. Man zieht auf diese Weise langsam, aber sicher, den ganzen Sender nach unten. Was wir jetzt brauchten, war ein strategisches Sparkonzept, bei dem die Unternehmensziele für die Zukunft definiert und die begrenzten Finanzmittel entsprechend eingesetzt werden. Solche Überlegungen sind ziemlich ungemütlich. Man muss dabei zwangsläufig Erbhöfe antasten, schlafende Hunde wecken und heilige Kühe schlachten. Und jeder, der einen erst freundlich ermuntert, dies doch endlich anzugehen, wird böse, wenn seine eigenen Bestände in Gefahr geraten, sei es die Zahl der Tatorte, sei es das Ballett, seien es die Klangkörper oder die Hörspiele. Aber das Sein bestimmt auch hier das Bewusstsein. Ich habe eine Arbeitsgruppe »Strategisches Sparen« eingesetzt,die genau solche Überlegungen anstellen und entsprechende Entscheidungen vorbereiten sollte. Meine Nachfolgerin führt, soweit ich das sehe, diesen Kurs konsequent fort.
Das andere Thema, mit dem ich meine neue Amtszeit begann, war attraktiver. Im Gefolge der Heinze-Affäre beim NDR (die dortige Fernsehspielchefin Doris Heinze hatte jahrelang eigene Drehbücher und Bücher ihres Mannes unter falschem Namen angekauft und produziert) ging gerade einmal wieder eine Fundamentalkritik über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nieder. Die befreundeten Kollegen in der Presse ließen nichts aus: von unseren korruptionsträchtigen Strukturen und den viel zu hohen Gebühren bis hin zur Verflachung und Kommerzialisierung unserer Angebote. Das war der übliche Kanon, das brauchte man nicht allzu ernst zu nehmen. Aber ein Vorwurf hat mich damals doch etwas nachdenklich gemacht. An prominenter Stelle, auf Seite drei, behauptete die »Süddeutsche Zeitung«, der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe »seine Innovationskraft verloren«.
Das kann man natürlich mit vielen guten Beispielen bestreiten, und so pauschal stimmt es auch nicht, aber dass Innovationen unsere starke Seite sind, konnte man nach meinem Eindruck in den letzten Jahren auch nicht behaupten. Ich habe daraufhin das Gespräch mit unseren Programmmachern gesucht. Wir waren uns schnell einig: Was wir machen, ist in Ordnung. Die Dokumentationen sind gut recherchiert, die Unterhaltungssendungen gefallen den Leuten, die Serien laufen mit Erfolg, und die Magazine wechseln ordentlich zwischen Beitrag und Moderation. Daran soll sich um Gottes willen auch nichts ändern. Diese Zuverlässigkeit und Erwartungssicherheit ist für den Erfolg eines Programms unverzichtbar – die Frage ist nur, ob es nicht an ein paar Stellen auch noch etwas anderes, Zusätzliches geben könnte, eine etwas schärfere Kante, an der man sich auch einmal reißen
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