Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
anders.« Ich vermute, man hätte die Ablassfrage auch anders lösen und sich die Kirchenspaltung ersparen können. Oder heute der landesweite Ökorausch mit dem emotionalen Ausstieg aus der Kernenergie oder das politisch korrekte Schönreden der Ausländerproblematik. Auch die idealistische deutsche Europapolitik, die sich hartnäckig weigert, ihr Scheitern zur Kenntnis zu nehmen, gehört für mich zu dieser politischen Romantik. Es mag ja richtig sein,dass sich die wirtschaftliche Integration Europas ohne politische Einigung nicht durchhalten lässt. Aber wie um Gottes willen soll denn diese politische Einigung aussehen? Wollen wir wirklich in einem Staat leben, in dem eine Mehrheit aus Griechen, Spaniern, Italienern, Rumänen und Portugiesen über die deutschen Steuereinnahmen entscheiden kann? In dem andere uns vorschreiben, wie wir unsere Verhältnisse in Deutschland zu ordnen haben? Nur weil die europäische Idee so schön ist? De Gaulle wusste schon, warum er ein Europa der Vaterländer wollte und mehr nicht. Die politische Einheit Europas mag ein Traum sein, ihre Verwirklichung wäre ein Alptraum. Aber ich schweife ab.
Mohammed Mustafa
Was die Digitalisierung betrifft, war der MDR gut aufgestellt. Ich hatte eine »Arbeitsgruppe DZ« (Digitale Zukunft) eingesetzt, die im Haus allgemein »Arbeitsgruppe Delitzsch« hieß, weil DZ das Autokennzeichen von Delitzsch war. Sie wurde von meiner späteren Nachfolgerin Karola Wille geleitet. Alle Bereiche des Hauses waren dort vertreten und arbeiteten trimedial an den entsprechenden Konzepten. Privat ging es zäher. Wie viele Vertreter meines Jahrgangs musste ich mich erst allmählich an Google, Online Banking und You Tube heranarbeiten. Einen Qualitätssprung machte meine persönliche Digitalkarriere durch eine ungeplante Begegnung mit Twitter. Das kam so: Anfang 2009 erschienen bei Twitter plötzlich Nachrichten über den MDR, und zwar ziemlich kenntnisreiche Nachrichten, die Offizielles mit Privatem oder Halbprivatem mischten und so für einige Unruhe bei unseren Mitarbeitern sorgten. Denn, und das war die Pointe,der Verfasser unterzeichnete sie mit »udo_reiter«. Das ging natürlich nicht. Unsere Rechtsabteilung machte sich daran, diese Meldungen zu stoppen. Das war ein mühsames Unterfangen, weil die zuständige Stelle in Kalifornien saß. Es dauerte denn auch mehrere Wochen, bis dem twitternden Pseudo-Reiter das Handwerk gelegt war. Nur: ein paar Tage später fing er als »reiterudo« wieder an. Wir ließen ihn ein zweite Mal sperren, und er fing ein drittes Mal neu an. Das wäre vermutlich ein endloses Spiel geworden, deshalb entschloss ich mich, die Sache selber in die Hand zu nehmen. Bei den Twitter-Leuten wurden Vertreter meiner Generation gern als »Email-Ausdrucker« oder »alte Männer mit Kugelschreiber« verspottet. Am 17. September setzte ich daher unter »mdrreiter« diese erste Twitter-Meldung ab: »auch alte männer mit kugelschreiber können twittern. bleiben sie dran«. Ich habe meinem Kopisten in den nächsten Wochen tatsächlich das Wasser abgegraben. Und es hat mir zunehmend Spaß gemacht. Das erste Mal bekam ich ein Gefühl dafür, dass hier neue Kommunikationswelten entstehen, die mit unseren klassischen Medien nicht mehr viel zu tun hatten: »nur 140 zeichen. wissen sie wie viele zeichen allein ›liebe mitarbeiterinnen und mitarbeiter‹ hat? 38! und man hat noch nichts gesagt.«
Es lief nicht schlecht. Am 10. März hatte ich 500 Follower, am 7. November 1000 und schließlich über 2000. Dazu hat vielleicht auch beigetragen, dass ich eine eigene Sparte erfunden habe. Aufbauend auf meiner Benn-Kenntnis, habe ich jeden Sonntag unter dem Stichwort »Benn am Sonntag« eine Zeile oder einen Satz von ihm oder gelegentlich auch über ihn getwittert – und darauf erstaunlich viel Resonanz erhalten. Von Followern, aber auch von der Gottfried-Benn-Gesellschaft, die mich einlud, Mitglied zu werden. Ein paar Beispiele meiner Benn-Tweets: »ausdruckskrisen und anfälle von erotik – das ist der menschvon heute« – »muss wohl alles so sein, aber bitte ohne mich« – »männer wollen doch von einer frau nicht am gehirn berührt werden, sondern ganz woanders« – »gute regie ist besser als treue« – »ich lasse mich zerfallen, ich bleibe dem ende nah, dann steht zwischen trümmern und ballen eine tiefe stunde da« – »wenn sie mich besuchen wollen, kommen sie pünktlich und bleiben sie nicht zu lange« – »›herr dr. benn, auf welcher
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